1906-1948 Vom deutschen Imperialismus zum Hitlerfaschismus

Wir erfahren einiges über den verstockten Konservativismus und dem politischen Katholizismus (Zentrumspartei), den Ausbruch des 1. Weltkrieg und die Ermordung des Thronfolgers Franz-Ferdinand und Gattin Sophie. Wir erfahren vom politischen Streit zwischen Frankreich und Deutschland (Marokko-Krise), Vorbote des Krieges? Wir erfahren über das Ende des Krieges und das Ende der Monarchie. Der Deutsche Konservativismus beklagt die Niederlage. Die Reparationslasten gelten als künftige Gefahr für den Frieden.
Die Zentrumspartei (in Bayern ging man schon immer andere Wege – sie hieß hier Bayerische Volkspartei) und die Sozialdemokratische Partei in Koalition – verfolgten, so CF, jeweils ihre Parteipolitischen Ziele und verlören das Große Ganze aus den Augen.
Und persönlicher Lebensbericht findet sich in den Erlebnissen als Ausgebombter Städter auf dem Land.

Im Original beginnt der Abschnitt mit der Überschrift (BD-II-329-362):

X. Prophet wider Willen

Dass man manchmal Prophet ist, ohne es zu wollen und sich dessen bewusst zu werden, das kommt im Leben vor, namentlich im Leben des politischen Journalisten, dem es nicht an dem für ihn so notwendigen, ja unentbehrlichen Fingerspitzengefühl gebricht. Als politischer Redakteur kommt man z. B., wenn man eindringlich warnen will, zuweilen in der Lage, prophetische Blicke in die Zukunft zu tun. Ob die Richtigkeit solcher prophetischer Blicke durch die zur Vergangenheit gewordene Zukunft immer bestätigt wird, ist eine Frage für sich, deren Beantwortung im positiven Sinne stark mit dem besagten Fingerspitzengefühl zusammenhängt. Ich für meinen Teil bin, wenn ich heute zurückschaue, erstaunt, wie oft die Zeit mir in solchen Fällen rechtgegeben hat. Dass man dabei auch als falscher Prophet auftreten kann, hat einmal ein Leitartikler im Regensburger Morgenblatt (es wird wohl sein damaliger Chefredakteur Held, der spätere bayerische Ministerpräsident, gewesen sein) mit einem geradezu klassischen Beispiel an sich selbst bewiesen. Als nämlich der Zentrumsführer und Münchner Philosophieprofessor Frhr. v. Hertling in der Zeitschrift „Hochland“ seinen berühmt gewordenen „Hausknecht“-Artikel schrieb und damit den Zorn und die Entrüstung des auf den Bauerndoktor Heim (der war mit dem Hausknecht gemeint) eingeschwornen bayerischen Zentrums herausforderte, da gab die bayerische Zentrumspresse dem Frhr. v. Hertling[1] zu verstehen, dass er sich mit seiner Handlungsweise „außerhalb der politischen Betätigung des katholischen Volksteils (lies: Zentrum!) in Bayern gestellt“ habe, und das Regensburger Morgenblatt des Herrn Held gar prophezeite rund und nett: „So hat der Hochlandschriftsteller Freiherr v. Hertling den Zentrumspolitiker v. Hertling für Bayern ein für allemal tot geschrieben.“ Das „ein für allemal“ war daneben prophezeit, und zwar gründlich. Denn sieben Jahre später hat der so politisch für Bayern ein für allemal „Totgesagte“ als Ministerpräsident eines ausgesprochenen Zentrumskabinetts seinen Einzug am Promenadenplatz gehalten, und zwar, was sich sonderlich gut ausnimmt, unter dem Jubel derselben Zentrumspresse, die ihn seinerzeit nicht tot genug hatte machen können. Da habe ich etwas früher schon, im Jahre 1903, immerhin besser prophezeit. Anlass hatte mir die zu jener Zeit im Gang befindliche starke Reformbewegung innerhalb der katholischen Kirche gegeben, die aus geistlichen Kreisen hervorgewachsen war und auch gegen den politischen Katholizismus und seinen Terrorismus Front zu machen versuchte. Ich schrieb über die Aussichten dieser Bewegung:
„Wir sind, wie die Dinge sich jetzt entwickelt haben, nach gerade zu der Überzeugung gekommen, dass eine ernste Reform innerhalb der katholischen Kirche, so notwendig sie wäre, solange eine Unmöglichkeit ist und bleiben wird, als der heutige Terrorismus das Feld beherrscht. Denn die Träger des Reformgedankens werden, soweit sie sich innerhalb des Rahmens der Kirche halten, durch deren unumschränkten und skrupellos auch angewandte Gewalt einfach niedergezwungen, gehen sie aber – einige wenige vielleicht – bis zu den äußersten Konsequenzen, so stellen sie sich selbst außerhalb des Bannkreises der katholischen Kirche, dann sind sie eben einfach aus der Kirche Ausgeschiedene oder Ausgeschlossene, und die von ihnen verfolgten Ziele tangieren die Kirche nicht weiter. Es kann also auch von ihrer Seite von keiner Reform der Kirche mehr die Rede sein. Die Gefolgschaft, die sie unter den augenblicklichen Zeitverhältnissen finden könnten, würde außerdem nur eine ganz minimale und deshalb praktisch bedeutungslos sein. Von welcher Seite man die Sache auch betrachten mag, man wird immer zu dem Schluss kommen: Wenn es besser werden soll, dann muss erst der Terrorismus des extremen ultramontanen politischen Katholizismus gründlich gebrochen werden. Und wir sind nicht so optimistisch, dass wir die Zeit schon für sehr nahe hielten, in der dies geschehen könnte. Es muss noch viel dunkler werden, bevor es heller wird. Aber es wird auch wieder heller werden. Geistige Bewegungen können nicht mit roher Gewalt ausgerottet werden, sie lassen sich damit zwar zeitweilig niederhalten, aber bei erster Gelegenheit drängen sie wieder an die Oberfläche. Ob sie freilich hier imstande sein werden, aus eigener Kraft den schließlichen Sieg zu erringen, ist sehr fraglich. Wir glauben vielmehr, dass der Anstoß zur Bezwingung des extremen politischen Katholizismus von außen nicht aus der Kirche selbst herauskommen muss.“

Die Reformbewegung nahm aller Erfolglosigkeit zum, Trotz jahrelang ihren Fortgang, und so befasste ich mich drei Jahre nachher gelegentlich des Erscheinens einer neuen Reformbroschüre noch einmal mit dem gleichen Thema unter der Überschrift „Vergebliche Liebesmühe“ und sagte u. a.:

„Immer wieder finden sich im katholischen Klerus intelligente und vorurteilsfreie Männer, die es trotz den schlimmen Erfahrungen so mancher ihrer Confratres wagen, offen auf die Mängel hinzuweisen, die ihrem Stande anhaften, und Mittel zur Abhilfe in Vorschlag bringen. Im gleichen Maße, wie man den Mut, die Unverzagtheit und die Überzeugungstreue dieses kleinen Häufleins bewundert, muss man es bedauern, dass all ihr ehrliches und wohlgemeintes Streben und Bemühen aussichtslos erscheint. Der Inhalt der neuen Broschüre verdient es wahrhaftig, von denen, die es angeht, recht intensiv beherzigt zu werden, aber dieser neue Appell wird aller Voraussicht nach ebenso wirkungslos verhallen wie die früheren auch. Denn heute, wo mehr als die Hälfte des katholischen Volkes durch skrupellose Bearbeitung Seitens demagogischer Agitatoren dahin gebracht ist, dass sie Religion und Politik nicht mehr auseinander zu halten vermag, wo infolgedessen das Schwergewicht des katholischen Lebens auf die politische Betätigung verlegt ist und die politische Gesinnungstüchtigkeit als Maßstab für Religiosität  und Rechtgläubigkeit gilt, ist keine Hoffnung vorhanden, dass Besserungsvorschläge auf geistigem und ideellem Gebiet ein geneigtes Gehör finden könnten. Das sind nebensächliche Dinge, für die man jetzt keine Zeit hat, um den heute die Mehrheit des katholischen Volkes auf Befehl seiner Führer tanzt. Dass auch Bildung eine Macht ist, die die katholische Kirche vielleicht noch einmal notwendiger haben wird als die politische Macht, sehen die meisten nicht ein, und die, die es einsehen, haben entweder kein Interesse daran, die andern darüber aufzuklären, oder sie dringen mit ihrer warnenden Stimme nicht durch. Zu den letzteren wird auch der Verfasser der neuen Broschüre gehören.“

Und wiederum ein Jahr später:
„Diese Partei und ihre himmelschreienden politischen Sünden dürften namentlich in Bayern dem Staate und der Monarchie noch zu Erfahrungen verhelfen, dass ihnen die Augen übergehen werden.“

Die Augen sind den beiden so sehr übergegangen, dass die Monarchie daran gestorben ist und der Staat seit mehr als drei Jahrzehnten im Kampf um Leben und Sterben liegt. Ich aber habe das alles hingeschrieben nicht etwa in der Absicht, einmal ein bisschen Prophet spielen und mich damit schön und wichtig machen zu wollen, zumal ja auch nur ganz wenige Menschen erfuhren und wussten, dass ich der Schreiber war, sondern weil ich die Dinge eben so sah. Und nun nach mehr als 40 Jahren und nach all dem, was wir inzwischen erlebt, wird man mir wohl bestätigen müssen, dass ich sie richtig sah. Ich darf hier übrigens wohl auch noch darauf hinweisen, dass im Kapitel V manches warnende, ungewollt prophetische Wort enthalten ist, das heute längst und leider Erfüllung gefunden hat. Der geneigte Leser wird das an den betreffenden Stellen wohl ganz von selbst schon empfunden haben.

Algeciras

Im Jahre 1906 war der schon geraume Zeit im Gang befindliche diplomatische Kampf um Marokko[2], in dem der scharfe Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland im Vordergrunde stand, akut geworden. In der Konferenz von Algeciras[3][4], die auf Betreiben der deutschen Diplomatie aus deren gänzlich falscher Beurteilung der Lage heraus zustande kam, ward dieser Kampf endgültig zugunsten Frankreichs entschieden, wie die spätere Entwicklung der Dinge ja genügend deutlich gezeigt hat. Noch war die Konferenz nicht zu Ende, da schrieb ich, als man das für uns wenig erfreuliche Ende bereits voraussehen konnte:
„Während wohl in ganz Deutschland kein in seinem Urteil unabhängiger Mensch darüber im Zweifel ist, dass Algeciras einen Erfolg für uns ganz und gar nicht bedeutet, sind, wie vorauszusehen war, die Offiziösen schon wieder emsig dabei, dem deutschen Volke die Vortrefflichkeit unserer Politik und den Wohlgeschmack der Früchte, die sie in Algeciras zur Reife gebracht, plausibel zu machen. Es dürfte ihnen das diesmal aber doch etwas schwer werden. Im Übrigen wird die Praxis sehr bald und sehr deutlich zeigen, dass das, was wir in Algeciras erreicht haben, gleich Null ist. Frankreich wird jetzt auf legalem, durch die Konferenz sanktionierten Wege, die „friedliche Durchdringung“ Marokkos d. h. seine Auffassung ins Werk setzen, und wir werden dagegen nichts zu tun in der Lage sein. Denn solange die Gruppierung der Mächte, wie sie sich in Algeciras gezeigt, keine Veränderung erfährt, wird die Mehrheit des diplomatischen Korps in Tanger immer auf Seiten Frankreichs sein. Dass diese Konstellation aber so bald eine Änderung erfahren werde, daran ist nicht zu denken.“

Als die Konferenz dann abgeschlossen war, da setzte ich in einem Artikel „Was bedeutet uns Algeciras?“, wieder in der undankbaren Rolle eines unfreiwilligen Propheten, auseinander:
„Um ein objektives Urteil über die Bedeutung dieses Paktes zu gewinnen, ist es notwendig, mit einer retrospektiven Betrachtung an die politische Lage, wie sie zu dem Zeitpunkt der Landung unseres Kaisers in Tanger sich darstellte, anzuknüpfen. Frankreich hatte über unseren Kopf hinweg mit England und Spanien und wahrscheinlich auch Italien über Marokko und seine Zukunft sich verständigt bzw. von diesen Mächten gegen entsprechende Äquivalente sich freie Hand im Reiche des Atlas zusichern lassen. Die deutsche Politik hatte den Fehler begangen, dass sie dagegen nicht sofort, nachdem ihr die Tatsache bekannt geworden war, Einspruch erhob, sondern erst geraume Zeit darüber verstreichen ließ. Das hatte dann auch zur Folge, dass man französischerseits auf die verspäteten deutschen Vorstellungen anfänglich fast gar nicht reagierte. Der damalige Leiter der auswärtigen Politik Frankreichs, Delcassé, ließ die Dinge vielmehr sogar soweit gedeihen, dass es Augenblicke gab, in denen der Friede Europas um Marokkos Willen nur mehr an einem dünnen Faden hing.

Schließlich sahen die Franzosen aber doch die Gefährlichkeit der von ihrem Minister des Auswärtigen verfolgten Politik ein, und sie gaben Monsieur Delcassé den Laufpass. Damit glaubten sie genug getan zu haben. Deutschland aber konnte sich nicht damit begnügen, den für jene ihm feindselige Politik verantwortlichen Mann eliminiert zu sehen, es musste auch Garantien dafür haben, dass jene gefährliche Politik selbst eine Änderung erfuhr. Schon der hartnäckige Widerstand und die großen Schwierigkeiten, denen Deutschland bei dem Bemühen, solche Garantien zu erlangen, begegnete, zeigten, dass Frankreich nur auf die von Delcassé beliebte Art und Weise, nicht aber auf den Kern und das Wesen seiner marokkanischen Politik zu verzichten gewillt war. Denn man hatte sich in Frankreich schon zu lange und schon zu sehr daran gewöhnt, Marokko als ein Land zu betrachten, dessen Zugehörigkeit zu Frankreich nur eine Frage der Zeit sein konnte.

Frankreich hätte es vermutlich vorgezogen, mittels eines Sonderabkommens über Marokko mit Deutschland zu einem Einverständnis zu gelangen. Aber unsere Diplomatie stellte sich auf den zweifellos korrekten, aber in diesem Falle vielleicht nicht glücklichen Standpunkt, dass die Regelung der Zukunft Marokkos nur durch eine Konferenz der Mächte erfolgen könne, die den Madrider Vertrag von 1880 über Marokko signiert hätten. Wir glaubten als Anwalt für die Interessen von Staaten auftreten zu müssen, die, wie sich nachher nur zu deutlich herausstellte, gar keinen Anwalt ihrer Interessen wünschten. Nach langem Sträuben akzeptierte Frankreich die Konferenzidee. Auch das war wie vorher schon die Entfernung Delcassés aus seinem Amt unbestreitbar ein Erfolg der deutschen Diplomatie.

Leider freilich nur in jenem Augenblick. Denn auf der Seite der Aktiva gebucht werden kann ein Erfolg in der Politik erst dann, wenn er durch die daraus erfließenden Resultate als solcher bestätigt worden ist. Und darüber gehen nun hier die Meinungen sehr weit auseinander. Es gibt allerdings Leute, die auch den dritten Teil unserer Marokko-Aktion als Erfolg deklarieren möchten, aber diese Leute sind Partei. Unbefangene Beurteiler sind dagegen der Meinung, dass die Lorbeeren, die wir aus Algeciras heimgebracht, nicht danach geartet sind, um uns zum Ausruhen darauf einzuladen. Es handelt sich dabei weniger um das, was in Algeciras hinsichtlich Marokkos erreicht bzw. nicht erreicht worden ist, als vielmehr um die allgemeinen Imponderabilien[5], die sich im Verlaufe der Konferenz so unangenehm fühlbar gemacht haben. Wir gehen nicht so weit zu sagen, dass Deutschland auf der Konferenz gar nichts erreicht habe. Es ist formell Manches erzielt worden, womit wir wenigstens das Gesicht zu wahren vermochten, aber in der Praxis wird das Erzielte auf nichts weiter hinauskommen, als dass wir die Franzosen bei ihrem Bemühen und ihrer Tätigkeit, Marokko zu einer französischen Kolonie zu machen, ein wenig kontrollieren können. Sie daran zu hindern, dazu werden das bisschen Bankbeteiligung und der Schweizerische Polizeiinspektor kaum ausreichen. Dazu wäre nur eine Aussicht vorhanden, wenn wir wenigstens einen erklecklichen Teil der Signaturmächte auf unserer Seite hätten. Das ist aber, wie die Konferenz mit einer für uns nichts weniger als erfreulichen Klarheit bewiesen hat, ganz und gar nicht, vielmehr das gerade Gegenteil der Fall.

Und darin, nicht in den übrigens klein genug ausgefallenen Zugeständnissen Frankreichs auf der Konferenz dünkt uns der Schwerpunkt der Ergebnisse von Algeciras zu liegen. Wir glauben nicht, dass die Leiter unserer auswärtigen Politik uns nach Algeciras geführt hätten, wenn sie von vornherein überzeugt gewesen wären, dass wir dort von denen, deren Interesse wir mitvertreten wollten, so wenig Unterstützung fänden. Dass wir wenig Freunde in der Welt haben, darüber sind längst alle, die nicht an dem bei uns allerdings sehr verbreiteten gewohnheitsmäßigen Optimismus kranken, einig. Aber diese Überzeugung haben und sich deren Richtigkeit vor aller Welt in feierlicher Weise bestätigen lassen, ist doch zweierlei. Das Letztere musste unbedingt und konnte vermieden werden. Dass man in Berlin in dieser Beziehung von dem wahren Stand der Dinge so gar keine Ahnung gehabt zu haben scheint, das ist eigentlich das Schlimmste an der Sache. Bevor man den dunklen Weg nach Algeciras antrat, musste man doch von den diplomatischen Vertretungen in Petersburg, Rom, Washington und noch anderen Plätzen aufs Genaueste über die Stimmung der betreffenden Regierungen unterrichtet sein. Das kann aber nicht der Fall gewesen sein, denn sonst wäre die Überraschung über die Haltung Russlands und Italiens nicht erklärlich. Einer solchen Überraschung durfte eine vorsichtige Politik sich doch nicht aussetzen. Unsere diplomatischen Vertreter im Ausland sind nicht bloß dazu da, um an Kaisers Geburtstag überschwängliche Reden zu halten, den fremden Potentaten neueste deutsche Uniformstücke vorzuführen und bei höfischen Festen als dekorative Statisten herumzuwimmeln. Es wäre vielleicht die erfreulichste Wirkung der Marokkokonferenz, wenn sie uns in dieser Richtung zu einer Lehre und zur Mahnung, Wandel zu schaffen, würde. Dann fragen wir uns etwa auch, ob es denn immer nur an der Gegenseite liegt, dass wir gar so wenig Freunde in der Welt haben, und erforschen ehrlich unser Gewissen, ob nicht auch bei uns selbst der eine oder andere Grund dafür zu finden wäre. Wer die Entwicklung unserer politischen Verhältnisse in den letzten achtzehn Jahren verfolgt hat, wird verstehen, wie wir das meinen.“

Ich bin weit davon entfernt, mir etwas darauf einzubilden, dass ich auch hier richtig gesehen. Ich wünschte im Gegenteil, mein Urteil wäre falsch gewesen und die deutsche Diplomatie hätte rechtbehalten. Dann wären uns die Schrecken des ersten Weltkrieges und damit auch die des zweiten vermutlich erspart geblieben. Denn Algeciras war ja doch wohl schon so etwas wie ein Wetterleuchten, das den am fernen Horizont heraufziehenden Weltensturm ankündigte. Zum Mindesten hätte uns Algeciras über die Zuverlässigkeit des italienischen Bundesgenossen hinreichend belehren können. Und man hätte sich auch nichts vergeben, wenn man ausnahmsweise in Deutschland einmal ein wenig auf die bei uns freilich immer über die Achsel angesehenen Zeitungsschreiber gehorcht hätte. Aber die deutschen Diplomaten der Wilhelminischen Nach-Bismarckzeit horchten immer nur nach oben, und was man unten sagte, war ihnen gleichgültig.

Die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand

Die fluchwürdige Tat von Sarajewo war, das wissen wir heute, sozusagen das Signal zum Losbruch des gewaltigen Kriegsgewitters, das dann vier Jahre lang die alte Erde erschütterte. Am 28. Juni 1914, einem herrlichen, strahlenden Hochsommersonntag, wie wir deren in dem Unheilsjahre 1914 ja so viele erlebten, saß ich nachmittags mutterseelenallein in meinem Chefredakteurbüro an der Paul-Heyse-Straße und arbeitete. Die Stadt München schien ausgestorben, ihre Bewohner waren in Scharen hinausgezogen ins Freie, um den schönen Sonntag zu genießen. Bald nach drei Uhr läutete mein Telefonapparat, und es meldete sich das Berliner Büro der Telegrafen-Union[6]. Sie hätten eine wichtige Extrameldung aus Sarajewo: Der österreichisch-ungarische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand[7] sei mit seiner Gemahlin dort ermordet worden. Mir verschlug die Meldung nahezu die Sprache. Nachdem ich mich vom ersten Schrecken erholt hatte, fragte ich zurück, ob denn die Meldung auch absolut zuverlässig wäre. Sie hätten keinen Zweifel, war die Erwiderung. Niedergeschmettert saß ich zunächst minutenlang an meinem Schreibtisch und gab meinen Gedanken Audienz. Eine innere Stimme sagte mir: Das ist der Krieg. Dann meldete sich der Journalist: Die Nachricht muss schnellstens zum Anschlag. Aber heute Jemand vom Personal zu erreichen wird schwer sein. Doch schon mit meinem ersten Versuch, den im Hause wohnenden Oberfaktor[8] mobil zu machen, hatte ich Glück. Der Mann erschien alsbald auf der Bildfläche, setzte selbst die Nachricht in großen Extrablattlettern, druckte die zum Anschlag nötigen Exemplare und besorgte nachher auch eigenständig den Anschlag. Gegen vier Uhr waren die Anschläge fertig gedruckt, aber ich wollte mich, bevor ich sie hinausgehen ließ, doch noch einmal vergewissern. Ich fragte daher telefonisch beim Wolffschen Büro[9], das sich bis dahin noch nicht gerührt hatte, an, ob ihnen etwas von der Sache bekannt sei. Das wurde verneint mit der Zusage, dass man sich erkundigen wolle. Schon nach noch nicht zehn Minuten kam dann der Anruf mit der Bestätigung. Nun konnte unser Extrablatt angeschlagen werden. Es war das erste und wohl über eine Stunde lang auch das einzige. In den Betrieben der anderen Münchner Blätter hatte man sich an dem schönen Sonntag offenbar auch der Versuchung zur Flucht ins Freie nicht widersetzen können. Ich selber verließ jetzt mein Büro und wanderte ins Stadtinnere, um die Wirkung des Anschlages auf das Publikum zu beobachten. Den Leuten ging es beim Lesen der Nachricht geradeso, wie es mir beim Anhören gegangen war. Sie waren ersichtlich wie vor den Kopf geschlagen. Immer dichter wurden mit der vorrückenden Nachmittagsstunden, die schon viele Ausflügler wieder in die Stadt zurückbrachten, die Menschenknäuel um die Anschlagtafeln. Es wurde nicht viel gesprochen, aber auf den Gesichtern las man tiefste Bestürzung und Niedergeschlagenheit. Alle hatten wohl das dumpfe Gefühl, dass politische Gewitterstimmung in der Luft lag.

Meine Überzeugung, dass nun der Krieg unvermeidlich sei, stand damals schon fest. Ich sage das nicht jetzt post festum[10], sondern ich kann beweisen, dass ich es bereits damals sagte. In den ersten Tagen des Juli 1914 hatten meine Konabsolventen zu einer kleinen Erinnerungsfeier an die vor 20 Jahren bestandene Reifeprüfung eingeladen. Auch ich folgte der Einladung, und wir fuhren gemeinsam nach Schäftlarn[11]. Natürlich war das Attentat und die dadurch geschaffene politische Lage bevorzugter Gesprächsgegenstand. Ich machte dabei aus meiner Überzeugung, dass wir unmittelbar vor dem Kriege stünden, kein Hehl. Die meisten meiner Schulfreunde wollten nicht daran glauben. Zehn Jahre später, als die katholischen Geistlichen unter meinen Konabsolventen, die zwei Drittel ausmachten, ihr fünfundzwanzigjähriges Priesterjubiläum feierten, erinnerten sie mich daran, dass ich seinerzeit das Kommen des Krieges mit solcher Bestimmtheit vorausgesagt hätte: Wir wollten es nicht glauben, doch Du hattest recht. Ein Oberkontrolleur der Straßenbahn, mit dem mich eine Art von Freundschaft verband, wie sie sich zwischen langjährigen, regelmäßigen Straßenbahnfahrern und Angestellten dieses Institutes zuweilen entwickelt, hat mich, als ich ihn kürzlich auf einem meiner Spaziergänge auch als alten ausrangierten Pensionisten wieder einmal traf, bei dieser Gelegenheit daran erinnert, dass ich an jenem 28. Juni 1914, als ich ihn Abends auf der Heimfahrt auf einer Straßenbahnplattform begegnete, mit einer ihn überraschenden Sicherheit gesagt hätte: Nun haben wir den Krieg. Ich hab’s damals nicht geglaubt, meinte der Mann, aber später habe ich oft daran gedacht, wie sehr Recht Sie hatten.

Vor und nach der Revolution

In der zweiten Hälfte des Jahres 1918 wurde ich von Professor Bastian Schmid, der damals Schriftleiter der politischen Wochenschrift „Allgemeine Zeitung“[12] war, die die allerdings nur kurzlebige Fortsetzung der einstmals weltberühmten Tageszeitung gleichen Namens darstellte, eingeladen, die Artikel über bayerische Politik in dieser Wochenschrift zu übernehmen. In einem der ersten dieser Artikel, die ich über die Herbsttagung des bayerischen Landtages schrieb, kam ich u. a. auf das für diese Tagung angekündigte Almenschutzgesetz zu sprechen und sagte darüber:
„Angekündigt, aber noch nicht fertig ausgearbeitet ist ein Almenschutzgesetz, eine zwar nur einen beschränkten Interessentenkreis von Gebirgsbauern, diesen aber sehr einschneidend berührende Angelegenheit, die auch seit vielen Jahren schon herumgezogen wird. Jetzt ist sie auf einem etwas ungewöhnlichen Wege in Gang gebracht worden. Der aus den Chiemgauer Bergen stammende bauernbündlerische Abgeordneten Eisenberger[13] hatte die „Geschichte endlich satt bekommen“, und ein Original, wie er ist, ging er in seiner grünen Lodenjoppe mit dem kecken Gemsbart auf dem Hute stehenden Fußes zum König, trug ihm die Sache vor und erbat sein Eingreifen. In wirtschaftlichen und namentlich landwirtschaftlichen Dingen ist dem König noch weniger als in anderen Dingen ein x für ein u vorzumachen – es soll nicht behauptet werden, dass man es schon versucht habe – da weiß er selbst genau Bescheid. Und es scheint, dass er die Vorstellungen Eisenbergers als berechtigt anerkannte. Denn die Almenschutzfrage[14] kam nun auf einmal in Fluss, und die so lange unüberwindlichen Widerstände, die in der Hauptsache wohl bei der Forstverwaltung und bei einigen großen Forst- und Jagdherren im Gebirge lagen, sind nun wenigstens soweit beseitigt, dass einmal ein ernsthafter Schritt zur positiven Lösung der Frage getan wird. Es gibt leider auch bei uns noch Leute, die die Zeichen der Zeit nicht recht verstehen wollen und die sich Zoll um Zoll unter hartnäckigem Widerstand abringen lassen, was man viel klüger mit frischem Entschluss aus freien Stücken gewährte. Mehr zu sagen ist nicht von Nöten, die es angeht, werden es verstehen.“

Und am Schluss dieses am 22. September 1918 veröffentlichten Artikels richte ich, nachdem ich auch noch die damals ebenfalls aktuelle Frage der Reform der Reichsratskammer besprochen hatte, folgenden Appell an die Parteien:
„Die Parteien aber würden sich selbst einen Dienst erweisen, wenn sie einmal den Anfang machten damit, in solchen Fragen sich über den kleinlichen Fraktionsgeist hinwegzusetzen.  Es könnte sonst sehr leicht sein, dass die werdende Zeit, die von der hinter uns liegenden ganz sicher sehr wesentlich sich unterscheiden wird, eines Tages sich über sie selbst hinwegsetzte. Das alte Parteiwesen sitzt – man muss auch das einmal aussprechen – durchaus nicht mehr so fest im Sattel, wie es sich vielleicht einbildet. Wir können da nach dem Kriege die größten Überraschungen erleben.“

Das war, wie gesagt, im September 1918, zu einer Zeit also, da Leute, die hören und sehen konnten und wollten, längst nicht mehr im Zweifel darüber waren, dass wir unaufhaltsam der Katastrophe entgegentrieben. Meinen nächsten Artikel veröffentlichte die Allgemeine Zeitung in der Nummer vom 3. November 1918. Er handelte von Bayerns innenpolitischer Neugestaltung. Langsam begann nun doch auch den Parteien zu dämmern, dass irgendetwas Positives geschehen müsste. Aber das Hin und Her der Erörterungen wollte kein Ende nehmen, und es geschah nichts von Bedeutung. Dabei stand man unmittelbar vor dem Abgrund, wenige Tage vor dem Ausbruch der Revolution, die diesen guten Leuten freilich ein Ding der Unmöglichkeit schien. Ich schloss meinen Artikel mit dem folgenden gewissermaßen letzten Notschrei:
Um diese Dinge haben nun die Parteien unter sich und mit der Regierung ein paar Wochen hinter verschlossenen Türen gefeilscht und gemarktet, wie es scheint, ganz in der alten kleinlichen Weise, die im neuen deutschen Reich schon so viel Unheil angerichtet hat. Es fehlt trotz allem, was geschehen, immer noch der richtige Blick dafür, dass die neue Zeit auch eines neuen Geistes bedarf, dass das Schicksal des Volkes keine Ware ist, die man nach Belieben und Bedarf unter- oder überbieten kann. Das Bild ist umso trauriger, als einerseits durch das mangelnde Entgegenkommen des Zentrums, andererseits durch die immer radikaler werdenden Forderungen der Sozialdemokratie, vielleicht auch durch die Passivität der Regierung, die alles den Parteien überlassen möchte, im letzten Augenblick, nachdem eine Einigung schon ganz nahe schien, die Gefahr entstanden ist, dass alles Mühen umsonst war. Die sozialdemokratischen Vertreter haben nämlich zur ziemlichen Überraschung der anderen Beteiligten plötzlich ihre weitere Mitwirkung an den Einigungsverhandlungen versagt.

Dazu bemerkt der Verfasser heute rückwirkend: Dieses Verhalten der Sozialdemokratie vier Tage vor der Revolution fällt sehr schwer ins Gewicht bei der Beurteilung der Rolle, die sie in der Revolution von 1918 gespielt hat. Meines Erachtens besagt ihr Verhalten nicht mehr und nicht weniger, als dass die Sozialdemokratie von der bevorstehenden Revolution genaue Kenntnis und ihren Platz darin gewählt hatte. Darum hatte sie kein Interesse mehr an einer Einigung mit den bürgerlichen Parteien. Sie selbst wollte es zwar immer so darstellen, als ob sie nur zwangsweise und, um Schlimmeres zu verhüten, sich in den Strudel der Revolution hätte hineinziehen lassen. Indes heißt es hier wohl auch: Halb zog sie ihn, halb sank er hin. Nämlich die sog. Unabhängigen zogen die sog. Mehrheitssozialisten hin, und die hin wiederum sanken recht gerne hin, weil sie ja schon darauf gewartet, nachdem sie den gefährlichen Teil der Arbeit, die Vorbereitung des Umsturzes, den Unabhängigen und Kommunisten überlassen hatten.

Was nun werden soll, ob die Regierung den Mut aufbringt, selbst die Initiative zu ergreifen, oder ob man der Sozialdemokratie gestatten will, das Land durch eine wilde Agitation in neue Aufregung zu stürzen, ist heute noch nicht zu sagen, wird aber vielleicht, bis diese Zeilen in Druck gehen, bereits entschieden sein.

Tief betrübt und fast hoffnungslos in seiner Ohnmacht steht der Vaterlandsfreund den Ereignissen gegenüber. Die Verhältnisse haben sich geradezu ins Unmessbare ausgewachsen, die Gefahren, die das Ganze wie den Einzelnen von allen Seiten bedrohen, sind ins Ungeheuerliche gestiegen, und das Volk in seinen Massen, ja auch manche Schichten der Gebildeten sehen nicht oder wollen nicht sehen, dass sie an einem Abgrund dahin wandeln. Die Volksvertreter gehen ganz und gar darin auf, für das Nötige, aber verhältnismäßig Kleine Vorsorge zu treffen, das Große, aber Notwendigste entgeht ihrem kurzsichtigen, immer noch von den Parteischeuklappen geblendeten Blick. Sie müssen demokratisieren und parla-mentarisieren, und sie sind mit solchen Eifer in diesen Aufgaben vertieft, dass sie für die großen Erfordernisse dieser Weltgeschichte in den gewaltigsten Formen gestaltenden Zeit weder Verständnis noch Kraft und Lust mehr aufzubringen vermögen. Nicht dass wir damit etwas gegen eine freiere Luft im Staats- und Volksleben sagen wollen. Bayern kann da einen kräftigen Stoß frischen Windes sehr wohl vertragen. Aber was dem Staate und der Gesellschaft droht, das kann mit innerpolitischen Reformen allein nicht aufgehalten werden. Um hier rechtzeitig vorzubeugen, ist vor allem eines bitter Not: engster Zusammenschluss aller bürgerlichen Elemente, ja, wir gehen noch weiter, Selbstbesinnung und Zusammenrücken aller Leute, denen der letzte Rest von Vernunft noch nicht abhandengekommen ist.

Gewiss kann man heute gar nicht weit genug in der freiheitlichen Ausgestaltung unseres innerpolitischen Lebens gehen. Aufgabe gerade der bürgerlichen Parteien, und zwar in ihrer Gesamtheit wäre es, für eine solche Ausgestaltung zu sorgen. Denn wenn sie es nicht tun, und wenn sie es nicht rasch und geschlossen tun, so können wir uns der Befürchtung nicht erwehren, dass sie von der radikalen Flut, die wir nach dem Kriege unfehlbar zu erwarten haben, einfach hinweggeschwemmt werden. Dagegen wird eine einzelne Partei auch mit dem allerschönsten Programm nicht mehr aufkommen. Wenn es eine Rettung davor überhaupt gibt, so kann sie nur in dem festen Zusammenschluss aller vernünftigen Elemente liegen, und sie kann nur darin liegen, und sie kann nur darin liegen, dass dieser Block der Vernünftigen von sich aus soweit wie nur irgend möglich in der Verwirklichung des Volksstaates geht, um so den Radikalismus das Wasser abzugraben. Wir besorgen[15] sehr, dass der vernünftige Teil der Sozialdemokratie, der heute noch die Führung der Massen in Händen zu haben glaubt, diese Führung sich aus den Händen gleiten sehen wird, wenn erst die Volksmassen an eigenem Leibe zu spüren bekommen, was der bevorstehende Friede für sie bedeutet. Die Zukunft in der Sozialdemokratie gehört aller Voraussicht nach nicht den Gemäßigten, sondern den Radikalen. Der gute Professor Bastian Schmid glaubte an dieser Stelle die Anerkennung machen zu müssen, dass die Erfahrungen bei den Ersatzwahlen im Reiche gegen diese Befürchtungen sprächen, aber es zeigte sich nur zu bald, dass ich leider der bessere Prophet war. Die Anzeichen dafür sind schon deutlich zu beobachten.

Das Zusammengehen der bürgerlichen Parteien mit der gemäßigten Sozialdemokratie ist heute zweifellos richtig. Man darf aber darauf kein Gebäude für längere Zeitdauer errichten wollen, denn dieses Gebäude würde, weil auf Sand gebaut, nicht standhalten. Es ist dringend vonnöten, dass die bürgerlichen Parteien, wenn sie nicht das Schicksal teilen wollen, das über die bürgerlichen Gesellschaft in Russland hereingebrochen ist, schon jetzt und so schnell wie möglich sich darüber klar werden, wie sie dem heraufziehenden Unheil begegnen wollen, damit sie nicht eines Tages davon überrascht werden. Die Ereignisse rasen im Sturm über die alte Erde hin. Und wen sie nicht stark und gerüstet antreffen, der läuft Gefahr, von ihren Trümmern erschlagen zu werden.

Mancher wird vielleicht geneigt sein, uns der Schwarzseherei zu bezichtigen. Die Zukunft wird lehren, dass man in diesen Tagen deutscher Not gar nicht schwarz genug sehen kann.“

Den nächsten Artikel in der Nr. 47 der Allgemeinen Zeitung vom 17. November 1918 konnte und musste ich, wahrhaftig nicht zu meiner Genugtuung, mit der folgenden Feststellung beginnen:
„Der Schreiber dieses ist leider kein schlechter Prophet gewesen, wenn er auch und ebenfalls leider ein schlimmer sein musste. Das Prophezeien ist ein undankbares Geschäft, zumal wenn man nichts Gutes zu prophezeien hat. Denn der Zweck der Prophezeiung, die erfolgreiche Warnung, wird gerade dann nicht erreicht, weil die Leute selten an das Schlimme glauben wollen. Wir haben das in Bayern in den letzten Wochen erlebt. Der geneigte Leser dieser Blätter erinnert sich vielleicht noch an das, was ich vor vierzehn Tagen am Schluss des Artikels „Bayerns innenpolitische Neugestaltung“ geschrieben habe. Es ist fast buchstäblich alles so gekommen, wie wir es damals warnend in Aussicht stellen mussten. Die Warnungen sind nicht gehört worden, nicht von den Parteien, nicht von der Regierung, nicht von der bürgerlichen Gesellschaft. Nun heißt es wie im Sprichwort: Wer nicht hören will, muss fühlen. Zugegeben ist, dass die warnenden Stimmen in der Öffentlichkeit nur sehr vereinzelt sich vernehmen ließen. Die Tagespresse hat beklagenswerter Weise fast durch die Bank an der alten unglückseligen Praxis des rosaroten Optimismus unentwegt auch jetzt noch festgehalten. Aber die Regierung war nicht ungewarnt. Wir wissen bestimmt, dass ihr von verschiedenen Seiten sehr ernsthafte und deutliche Winke gegeben wurden. Indes, man hat in allzu großer Vertrauensseligkeit zur Macht und zum anscheinend guten Willen der Mehrheitssozialisten alles in den Wind geschlagen und so gut wie nichts oder nur Falsches und Verkehrtes getan, um den drohenden Gefahren zu begegnen. Sonst wäre es einfach unmöglich gewesen, das ganze gewaltige alte Staatsgebäude über Nacht wie ein Kartenhaus zusammenstürzen zu lassen. Man mag sich zur Frage: Monarchie oder Republik? stellen, wie man will, dass Eine ließ sich jedenfalls schon lange mit ziemlicher Sicherheit voraussehen, dass, wenn dieser Weltkrieg mit einer Niederlage für uns endet, eine große innere Umwälzung die unvermeidliche Folge sein würde. Diese furchtbare erste Novemberwoche, eine Schicksalswoche Deutschlands, hat uns mit einer auch den größten Pessimisten noch verblüffende Raschheit und Gründlichkeit von der Richtigkeit dieser Annahme überzeugt. Und die bürgerliche Gesellschaft ist durchaus nicht unschuldig an diesem Ergebnis. Ganz im Gegenteil: Sie trägt einen sehr großen Teil der Schuld selbst. Wenn man auch von dem, was die Einzelnen gesündigt – im Heere, in der Kriegswirtschaft und im öffentlichen und privaten Leben – zunächst ganz absehen will, obwohl es wahrhaftig nicht wenig und nicht unerheblich war: zwei Hauptfehler sind von der Gesamtheit der bürgerlichen Gesellschaft begangen worden: das aus der persönlichen Unzufriedenheit und Verärgerung des Einzelnen wohl erklärliche, aber nicht zu rechtfertigende ewige Liebäugeln mit radikalen Tendenzen und Bestrebungen und das in verhängnisvollem Gegensatz dazu stehende Verhalten der bürgerlichen Parteien, die, die einen mehr die anderen minder, die ganz falsche Taktik befolgen zu müssen glaubten, in dieser mit politischer Elektrizität auf höchste Spannung geladenen Zeit verhältnismäßig bescheidene staatsbürgerliche Rechte nur unter Zögern und Sträuben und erst nach monate- und jahrelangem in kleinlicher Weise beschriebenen Markten und Feilschen zu gewähren. Als sie dann endlich über Zugeständnisse sich einigten, die, vielleicht vor einem halben oder ganzen Jahre noch als leidlich befriedigend hätten empfunden werden können, da hatte die Entwicklung, die heute in rasendem Tempo sich vollzieht, diese Politiker einer schon historisch gewordenen Biedermeierzeit der Weltgeschichte längst meilenweit überholt. Da war schon der Brand im Innern des Hauses im Entstehen, und nur ein Löschversuch im allergrößten Stil hätte vielleicht noch schwache Aussicht auf Erfolg bieten können. Dieser Versuch einer großzügigen freiheitlichen Bewegung aus dem Bürgertum heraus wurde nicht unternommen. Dazu fehlten die Männer mit klarem Kopf und raschem beherzten Entschluss zur Tat. Ja, die Männer der Tat und der Verantwortungsfreudigkeit, die das Zeug und den Mut gehabt hätten, ihre Mitbürger mit fortzureißen zu schnellem Handeln, die haben uns während des ganzen Krieges gefehlt, die standen zumeist draußen vor dem Feinde, und die Besten davon deckt längst der kühle Rasen im fremden Lande. Daher konnten daheim Kleinmut und Verzagtheit, Wankelmut und Unentschlossenheit überwuchern und Kurzsichtigkeit und kleinlicher Eigensinn Triumphe feiern. Man konnte sich nicht loslösen von dem altgewohnten Trott der langen Friedenszeit und wollte nicht sehen und glauben, dass die vier Jahre dieses ungeheuren Weltkrieges von dem alten, morsch gewordenen Gebäude kaum noch einen Stein auf dem anderen gelassen hatten.“

In einem in der Nummer der Allgemeinen Zeitung vom 1. Dezember 1918 veröffentlichten Artikel stellte ich einleitend die durch das überstürzte Waffenstillstandsangebot und den ihm folgenden Waffenstillstand mit seinen ungeheuerlichen Bedingungen für uns geschaffene verzweifelte Lage fest und folgerte u. a. daraus:
„Was soll und wird nun werden? Es hat keinen Zweck, mit der jetzt so beliebten Hoffnung, es wird schon nachher nicht ganz so schlimm ausfallen, wie es jetzt hersieht, sich über alles, auch das Furchtbare hinwegzusetzen. Wir müssen den Dingen fest ins Auge sehen und auch das Mögliche und Wahrscheinliche, nicht nur das absolute Sichere und Feststehende in unsere Rechnung einstellen. Und wir müssen andererseits aus dieser Rechnung die Fehler ausmerzen, die uns bisher unterlaufen sind. Als ein solcher Fehler hat sich jetzt schon erwiesen und wird sich im weiteren Verlaufe der Ereignisse noch mehr erweisen unser Vertrauen auf Wilson[16]. Selbst angenommen, Wilson hätte den ehrlichen Willen, die von ihm aufgestellten Friedensgrundsätze, auf die wir uns vertrauensvoll festgelegt, bei den Verhandlungen durchzudrücken, hat er auch die Macht dazu? Nicht nur in Frankreich und England und in den übrigen europäischen Entente Ländern begegnen seine Grundsätze dem heftigsten Widerspruch, auch in seinem eigenen Lande erhebt sich eine scharfe Opposition. Wenn der Präsident aber nicht einmal mehr sein eigenes Land geschlossen hinter sich hat, so sinken seine Friedensabsichten zu vielleicht gutgemeinten, aber praktisch aussichtslosen Theorien herab.“

Der Schriftleiter Prof. Bastian Schmid meinte in einer Anmerkung hierzu: „Und doch bleibt das Bekenntnis Wilsons zum Rechtsfrieden ein dauernder Hinweis auf die ewigen Gebote der Wahrheit und Gerechtigkeit, die von keinem Volke ungestraft verletzt werden dürfen.“

Wohl hatte er damit recht, ebenso recht hatte aber damals auch ich mit der Feststellung, dass unser Vertrauen auf Wilson ein Fehler war. Jenen Artikel vom 1. Dezember 1918 schloss ich mit den folgenden Sätzen:
„Die deutsche Revolution vermag nichts an der Tatsache zu ändern, dass in der Politik auch heute noch Macht, Macht und wiederum Macht ganz allein entscheidet. Wir aber sind macht- und wehrlos und müssen über uns ergehen lassen, was die Feinde, die die Macht in Händen halten, beschließen. Man kann und muss das heute ohne Scheu aussprechen. Haben es doch die Reichsregierung und die bayerische Staatsregierung in ihren an die Feinde gerichteten Bitten und Protesten selbst unumwunden eingestanden.

Es ist im Grunde genommen auch nur eine reine Formalität für die Feinde und für uns die endgültige Besiegelung und Krönung aller Demütigungen, wenn wir an den Friedensverhandlungen teilnehmen bzw. gnädigst dazu zugelassen und nicht wie China nach dem Boxeraufstande behandelt werden. Die Demütigung wäre kaum wesentlich geringer, wenn sie uns wie damals China die Friedensbedingungen einfach diktierten.  Auf dem Friedenskongress werden wir ja doch nichts anderes zu tun haben, als die Bedingungen der Entente entgegen- und anzunehmen. Das könnte ebenso gut jeden Augenblick geschehen, sobald unter den Feinden über die Bedingungen Einigkeit herrschte. Man verfalle aber nicht dem Irrtum zu glauben, dass wir aus einer möglicherweise unter ihnen auftretenden Uneinigkeit Vorteil würden ziehen können. Über die uns aufzuerlegenden Bedingungen werden die Gegner sicher sich einigen, wenn sie es nicht schon getan haben. Streit kann vielleicht nachher über die Teilung der Beute entstehen, aber davon werden wir keinen Gewinn mehr herauszuschlagen imstande sein. Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung nannte man seinerzeit die napoleonische Epoche. Sie verbleicht vor dem, was heute auf uns lastet, und vor dem, was uns noch bevorsteht. Ja fürwahr: Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung! Armes, armes Deutschland!“

Das war, wie gesagt, im Dezember 1918 geschrieben. Als es ein halbes Jahr später endlich zum Versailler Friedensschluss[17] kam, da waren die Demütigungen für uns noch viel schlimmer als vorausgesehen, und das Furchtbarste war, dass wir auch den sog. Schuldparagraphen zu unterzeichnen gezwungen wurden, den man heute ruhig eine Lüge nennen darf, nachdem die unterschiedlichen Staatsmänner zum Wenigsten die nicht minder große Mitschuld, wenn nicht Alleinschuld der anderen Seite deutlich genug haben erkennen lassen.[18]

Die Gefahren des Friedens

Wie ein Tier, das man zur Schlachtbank führt, sträubte sich das deutsche Volk in seiner Sehnsucht nach Frieden und Ruhe, die Wirkungen des Friedensvertrag in ihrer ganzen Tragweite zu ermessen und zu übersehen. Umso notwendiger schien es mir schon bald nach Friedensschluss, die Blicke des Volkes auf das Kommende zu lenken. Denn den Frieden hatten wir ja nun wohl, aber dieser Friede bedrohte Volk und Vaterland mit neuen riesengroßen Gefahren. Am 13. Juni 1919 schloss ich deshalb einen längeren Artikel in der Allgemeinen Zeitung wie folgt:
„Wir dürfen nicht vergessen, dass wir wirtschaftlich und damit auch politisch – denn Wirtschaft und Politik sind heute untrennbar verknüpft – die schlimmsten Zeiten nicht hinter, sondern leider erst noch vor uns haben. Die schwersten Belastungsproben wird unser Wirtschaftsleben und mit ihm unsere innere Politik erst erfahren, wenn die furchtbaren Wirkungen des nun endlich abgeschlossenen Frieden einmal mit ihrer vollen Wucht auf uns drücken werden. Und das ist ein Prozess nicht von Wochen und Monaten, nein von Jahren, von vielen Jahren. Die Schulden und Steuerlasten des Landes sind jetzt schon ungeheuer, und wenn nun das dazu kommt, was die Feinde uns aufzuladen für gut befinden werden, so braucht man wahrhaftig kein Pessimist zu sein, wenn man hier keinen Ausweg mehr zu sehen vermag. Namentlich, wenn dem unsinnigen Wettrennen der Forderungen an Staat und Wirtschaftsleben nicht Einhalt geboten werden kann, das die Staatsfinanzen noch vollends bis zum Zusammenbruch zerrütten und das Wirtschaftsleben mehr und mehr zum Stillstand bringen muss. Das Ziel, dem dieses tolle Rennen um immer höhere Löhne und Gehälter, um immer höhere Preise zusteuert, ist kein anderes als der Staatsbankrott. Das sollen alle die bedenken, die, nur dem augenblicklichen Gewinn nachjagend, diesem Ziel und ihrem Unglück entgegenstürzen. Denn der Staatsbankrott wäre auch ihr Ruin. Arbeit, Bescheidung und Einfachheit können einzig und allein uns Rettung bringen in der unendlichen Not, die über uns hereinbricht. Sie werden uns umso härter und erbarmungsloser aufgezwungen werden, je hartnäckiger und je länger wir uns ihnen zu entziehen suchen. Das gilt für alle ohne Unterschied. Denn die Unterschiede werden sich in Bälde stark verwischen. Was kein politisches Programm, kein Putsch und keine Räteherrschaft fertiggebracht, dass wird die Not mit rauem Griff bewirken.“

Zum offiziellen und formellen Staatsbankrott kam es ja nun zwar nicht, dafür aber zu weit Schlimmerem, nämlich zum Volksbankrott. Denn die Inflation mit ihren geradezu astronomischen Entwicklungsziffern war nichts anderes als der Volksbankrott. Man kann es auch eine Volksenteignung nennen. So etwas hat wohl noch kein Volk der Erde erlebt und durchgemacht.

Die Wiederkehr der alten Parteiwirtschaft

Allem Erlebten und allen Erfahrungen zum Trotz fingen schon bald nach der Revolution, nachdem das rein parlamentarische Regime die marxistisch-bolschewistische Rätewirtschaft abgelöst hatte, die Parteien wieder an, ganz nach dem alten Vorkriegsmuster, aber von dem Hemmschuh der Monarchie befreit jetzt noch ungenierter sich breit zu machen. Man redete zwar immer sehr viel von Volk und Vaterland, aber in Wirklichkeit kümmerte sich keine Partei um diese und allen galt als Richtschnur für ihr Handeln ganz wie einst nur ihr eigenes Interesse. Und natürlich tat sich dabei das Zentrum, das sich in Bayern 1920 in Bayerische Volkspartei umtaufte, ganz besonders hervor. Im Oktober 1919 schrieb ich ihm daher die folgenden Sätze in’s Stammbuch:
„Das Zentrum rechnet für die Zukunft, wie Held[19] in Deggendorf durchblicken ließ, auf das Zusammenstehen der bürgerlichen Parteien. Für das Zusammenstehen der bürgerlichen Parteien ist aber vor allem wichtig, dass das Zentrum seine durch Held in Deggendorf gegebene Versicherung, dass ihm maßgebend nicht seine letzten Parteiforderungen seien, sondern was für das Volk und den Wiederaufbau des Vaterlandes notwendig sei, auch wahrmacht. Dass es ihm damit ernst ist, hat nämlich das Zentrum erst noch zu beweisen. Denn bisher hat es immer, wenn es in der Macht saß, ganz ähnlich wie jetzt die Sozialdemokratie in erster Linie seine Parteiziele zu verwirklichen getrachtet und dabei auf das Wohl des Ganzen und die Wünsche der Mehrheit meist recht wenig Rücksicht genommen. Wenn jetzt das Gegenteil versichert wird, so hören wir wohl gerne die Botschaft, allein bis zum Beweise des Gegenteils fehlt uns leider noch der Glaube. Wir lassen uns aber durch tatsächliche Beweise mit Vergnügen eines Besseren belehren.“

Auf diese Beweise warteten wir freilich auch vergebens, und wir hatten somit dem Zentrum nicht Unrecht getan damit, dass wir an seine Versicherungen nicht glaubten. Ein andermal, am 20. Juni 1920, als die Landtagswahlen in Bayern eine stark rückläufige Bewegung des Marxismus ergeben hatten, richtete ich in einem Artikel in der Allgemeinen Zeitung an die nichtsozialistischen Parteien die folgende dringende Warnung:
„Das ist als Symptom der Gesundung von der Krankheit des Radikalismus sicher aufs Freudigste zu begrüßen. Allein es birgt doch auch eine große Gefahr in sich, über die sich rechtzeitig klar zu werden und der mit dem entsprechenden Handeln zu begegnen, man im bürgerlichen Lager gut tun wird. Die Abkehr vom Sozialismus geschieht natürlich in der Hoffnung und Erwartung, dass die anderen, die nun ans Ruder treten, es besser machen werden. Versagen auch diese anderen, vermögen auch sie keine Ordnung in der Wirtschaft zu bringen, gelingt es ihnen nicht, einigermaßen wenigstens einen Einklang zwischen  Preisen und Löhnen herzustellen und stabilere Verhältnisse auf diesem Gebiete zu schaffen, dann darf man sich keiner Täuschung darüber hingeben, dass sie das vertrauende Volk aufs Neue verlieren und dass dieses einen Rückfall in die radikale Krankheit erleiden wird, der schlimmer als der erste Anfall wäre. Mit Mundspitzen allein, das nun schon zwei Jahre lang geübt wurde, ist es nicht getan, jetzt muss endlich gepfiffen werden. Allen wird die Melodie nicht immer erfreulich in den Ohren klingen, aber das Volk muss hören, dass man überhaupt eine Melodie hat. Nur unter dieser Voraussetzung kann der Erfolg, den das Bürgertum am 6. Juni in Bayern unstreitig errungen hat, auch ausgewertet werden, sonst müsste er sich sehr bald als Scheinerfolg erweisen.“

Natürlich hat die Warnung des Propheten nichts genutzt. Die bürgerlichen Parteien fanden keine richtige Melodie, obwohl sie Zeit genug dazu gehabt hätten, bis sie im Jahre 1933 wieder durch den Radikalismus diesmal des entgegengesetzten Extrems von der politischen Bildfläche hinweggefegt wurden.

Der Bauer – nach dem ersten und zweiten Weltkrieg

Wie ich, selbst ein Bauernspross, zu jener Zeit die Bauernfrage beurteilte, zeigt ein Artikel „Bayern und seine Bauern“ in der Nr. 2 der Allgemeinen Zeitung vom 18. Januar 1920, in dem es u. a. heißt:

„Das wirtschaftliche Schwergewicht in Bayern ruht heute, nachdem Industrie und Handel durch Krieg und Revolution dem Zusammenbruch nahegebracht sind, mehr denn je bei der Landwirtschaft. Der Bauer ist der Mann der Zukunft, der Mann, von dem die Rettung kommen soll. Da in Bayern das Mittel- und Kleinbauerntum vorherrscht, ist eine breite, solide Basis gegeben, auf der wohl ein wirtschaftliches und politisches Gebäude sich errichten lässt.

Das gemeinsame Bindemittel der gleichen wirtschaftlichen Interessen ist in der heutigen, fast ausschließlichen auf das Materielle gerichteten Zeit mächtiger und wirksamer denn je. Bei aller Berechtigung wirtschaftlicher Interessen leider fast allzu mächtig. Diese Überspannung des Materiellen, diese schrankenlose Erwerbsgier gerade im Bauernstande birgt eine große Gefahr für das Land und schließlich auch für die Bauernschaft selbst in sich. Die Landwirtschaft ist unstreitig derjenige Erwerbszweig, der unter dem Kriege am Wenigsten gelitten hat, im Gegenteil, die Bauern sind reich und ihrer Macht und der Bedeutung der Landwirtschaft für das Volksganze erst so recht sich bewusst geworden. Würde nun zum wirtschaftlichen Übergewicht auch noch die politische Macht im Staate sich gesellen, so stünde zu befürchten, dass die letztere dazu benützt werden könnte, das wirtschaftliche Übergewicht noch weiter zu verstärken und schließlich zu einem für die übrige konsumierende Bevölkerung unerträglichen zu machen. Hier würde es des überragenden Einflusses der Führer und ihrer Mäßigung bedürfen, um neben dem wohlverstandenen materiellen Interesse der Landwirtschaft auch die der übrigen Wirtschaftsgruppen nicht zu kurz kommen zu lassen und über allem das Wohl des Ganzen im Auge zu behalten, das unter der einseitig betonten Herrschaft einer wirtschaftlichen Partei im Staat niemals gedeihen könnte.“

1920 geschrieben, als der deutsche Bauer noch von den wirtschaftlichen Vorteilen des Krieges und der Inflation für ihn zehrte, und als auf die Initiative des Bauerndoktors Heim in Bayern Bestrebungen im Gange waren, über die politischen Parteien hinweg und aus diesen eine nur wirtschaftlich orientierte reine Bauernpartei zu schaffen. Daraus ist – man darf wohl sagen: zum Glück – nichts geworden.

  • und nach dem zweiten Weltkrieg

Nach dem schweren Niedergang, der das deutsche Bauerntum dann in den 20 Jahren nach der Inflation nicht ohne eigenes Verschulden getroffen hat, hat in der Folge das nationalsozialistische Regime es – auch die Bauern sollten, was sie sonst und mit Recht am Nationalsozialismus auch auszusetzen haben, das gerechterweise anerkennen – wieder der Gesundung und einem gewissen Wohlstand zugeführt. Leider ist heute nach dem sechsjährigen zweiten Weltkrieg und dem zweiten noch viel furchtbareren und noch viel weniger wieder gutzumachenden Zusammenbruch die wirtschaftliche Macht und der Übermut der Bauern in einem für die übrige Bevölkerung allmählich unerträglich werdenden Maße gestiegen. Der Sinn der Bauernschaft, die, vom ersten und auch vom zweiten Weltkrieg kaum betroffen, im zweiten und nach ihm bessere Zeiten als irgend ein anderer Volksteil hatte und in ihrer Mehrzahl wie im Frieden leben konnte und es noch kann, ist heute viel mehr noch als nach dem ersten Weltkriege und noch ausgeprägter und einseitiger auf das Materielle gerichtet. Das hat wiederum dazu geführt, dass auf dem Lande Schieberei, Tausch-, Schwarz- und Schleichhandel zu üppigster Blüte sich entwickeln konnten und jede nur mögliche Förderung gefunden hat. Die Bauernhäuser sind vollgestopft mit wahren Stapellagern von Sachwerten, die in Erwartung der Währungsstabilisierung angehäuft wurden. Hinter dem Volkswitz von dem Teppich im Kuhstall und den Brillanten in den Schweinsohren, die das Einzige seien, was den Bauern noch fehlte, verbarg sich eine nicht unbegründete Erbitterung der notleidenden Bevölkerung, die eines Tages auch den Bauern selbst noch gefährlich werden kann. Regierungen und Parteien haben nicht den Mut und hatten ihn nicht, als es am Notwendigsten war, gegen diese bedenklichen Erscheinungen irgendetwas Ernsthaftes zu unternehmen, und die Besatzungsmächte anscheinend wenig oder gar kein Interesse, da einzugreifen.

Zur Jahresgedenkfeier der neuen Chiemsee-Heiligen, am St. Irmengardistage im Juli 1947, hielt in der uralten düsteren Klosterkirche  auf der Fraueninsel, wohl einen der ältesten Gotteshäuser Deutschlands, der damals kurz zuvor zum Weihbischof der Erzdiözese ernannte Münchner Domkapitular Neuhäusler[20], der während des Krieges geraume Zeit im KZ hatte zubringen müssen, die Festpredigt. Sie hat in einem recht wesentlichen Teil ihres Inhalts den zahlreich zum Feste herbeigeströmten bäuerlichen Zuhörern wenig angenehm in den Ohren geklungen, während sie von den ebenfalls in beträchtlicher anwesenden städtischen und ländlichen Normalverbrauchern mit sichtlicher Befriedigung vernommen wurde. Der Prediger hatte die schöne Gelegenheit wahrgenommen, seinen mehr oder minder frommen bäuerlichen Zuhörern ins Gewissen zu reden, dass sie es mit ihren Pflichten gegenüber den hungernden Mitmenschen in den Städten hinsichtlich der Ablieferung der Lebensmittel etwas ernster nehmen sollten, als sie das zuweilen zu tun pflegten. Der Kanzelredner sprach dabei auch im Allgemeinen von der Ausübung der christlichen Nächstenliebe außerhalb der Ablieferungspflicht und flocht hier eine kleine, durch die Tatsachen, die sie enthüllte, erschütternde Geschichte ein, die in das unter der Kanzel versammelte Publikum wie eine Bombe einschlug.

Die der Geschichte zugrunde liegende Handlung ist einfach, aber dramatisch. Ort der Handlung: ein oberbayerisches Bauerndorf. Personen: ein Bauer, eine arme hamsternde Frau aus der Stadt und der Dorfpfarrer. Mittelpunkt der Handlung ein Ehering, der sich durch das Eingreifen des Pfarrers in die Handlung überraschend in sechs verwandelt. Ich skizziere kurz den Ablauf der Handlung. Im Pfarrhof des Dorfes erscheint eines Tages eine ärmlich gekleidete Frau und klagt dem Pfarrer ihr Leid. Sie kam aus der Großstadt und wollte für ihre hungernden Kinder Lebensmittel hamstern. Bei einem Bauer erhielt sie auch ein Weniges, musste aber ihren Ehering dafür hingeben. Dass fasst dem erzürnten Pfarrherrn an seine Priesterseele. Mit dem Vorsatz, die abscheuliche Tat verdientermaßen anzuprangern, besteigt der mit Fug und Recht Empörte am nächsten Sonntag seine Kanzel, und er schließt das Donnerwetter, das er über seine mit geduckten Köpfen dasitzenden lieben Pfarrkinder hinfahren lässt, mit der scharfen Aufforderung an den Übeltäter, den er nicht kennt und nicht kennen will, den Ehering alsbald wieder herauszugeben. Und siehe da: der so angeforderte Ehering findet sich tatsächlich schon am nächsten Tage im Pfarrhofe ein. Aber wer beschreibt die Verblüffung des Hochwürdigen, als diesem einen Ring in den nächsten Tagen noch fünf weitere folgen! War der Geistliche schon nicht ganz sicher gewesen, ob der eine Ring, von dem er wusste, dass er in seinem Dorfe war, den Weg zu ihm in’s Pfarrhaus finden würde, dieser Erfolg seiner Strafpredigt, an den er auch nicht im Entferntesten gedacht, und den Ringsegen, den er ihm gebracht, erhöhten zwar auf der einen Seite seine Freude über die anscheinend doch vorhandene Reue und Scham der Übeltäter, steigerten aber andererseits begreiflicherweise auch seine Empörung und seinen Zorn darüber, dass so etwas überhaupt möglich war und dass ausgerechnet ihm in seinem Dorfe das passieren musste.

Natürlich kennzeichnete auch der Weihbischof mit entsprechenden und deutlichen Worten dieses verabscheuungswürdige Treiben der Bauern, bei dem man wie sich schon aus der hier allein in einem einzigen Dorfe vorliegenden Vervielfachung ergibt, sicher nicht von einem Einzel- oder Ausnahmefall reden kann. Und wie reagierten darauf die bäuerlichen Zuhörer? Ich brauche darüber keine Vermutungen auszusprechen, ich habe es durch Ohrenzeugen feststellen können. Beim Austritt aus dem Portal des ehrwürdigen Münsters, über dessen Schwelle vor mehr als tausend Jahren schon Fischer und Bauern ihre Füße setzten, äußerte eine Bäuerin, zu einer neben ihr gehenden so laut, dass es auch mit herausdrängende Stadtleute hören konnten: „Dös hätt’ er a net grod heind sogn braucha, wo so vui Stodleut do san.“[21] Für die abscheulichen Taten, die diese sechs Eheringe ans Licht brachten und die Vielen, die sich noch ahnen lassen, hatte diese Bäuerin kein Wort der Verurteilung, nur den Umstand empfand sie genierlich, dass der Herr Weihbischof die bäuerliche Raffgier vor nichtbäuerlichen Ohren angeprangert hatte.

Nicht alle kirchlichen Dorfhirten leider haben so wie dieser hier den Mut und Willen, so offen und ungeschminkt, wie man mit dickfelligen und schwerhörigen Bauern reden muss, wenn sie verstehen und das Gesagte ernstnehmen sollen, ihre Gemeinden anzusprechen. Viele, vielleicht die meisten begnügen sich damit, in allgemeinen Redewendungen gelegentlich Ermahnungen an sie zu richten, die von der gut eingefetteten Bauernwurst wie Wasser von einem Gummimantel ablaufen. Beim Anstehen um irgendetwas – es gibt ja kaum etwas, worum man in den letzten Jahren nicht hätte anstehen müssen – beim Anstehen also bin ich vor einiger Weile mit einem Manne ins Gespräch gekommen, der ebenso wie ich als völlig Ausgebombter und Evakuierter auch nach Kriegsschluss noch länger auf dem Lande hatte leben und dort auch so ziemlich die selben Erfahrungen machen müssen. Das veranlasste ihn, wie er mir erzählte, seinem Ortspfarrer einmal eindringlich nahe zu legen, er möchte doch, um dem für die Lebensmittelversorgung der übrigen Bevölkerung namentlich in den größten Städten so schädlichen Treiben der Bauern mit Erfolg entgegenzuwirken, den seinigen von der Kanzel aus öfter, aber auch ganz energisch und unmissverständlich die Meinung sagen. Dem Einwand des Herrn Pfarrers, er ermahnte ja sowieso seine Bauern immer wieder zur Erfüllung ihrer Pflichten, begegnete der Mann mit der sehr richtigen Bemerkung, der Herr Pfarrer wisse doch wohl so gut wie er und vermutlich noch besser, dass man den Bauern, wenn man sie wirklich auf den Trab bringen wolle, schon sehr kräftig vor den Bauch stoßen müsse. Über allgemeine Ermahnungen regten die schon längst sich nicht mehr auf, das habe er von ihnen selbst schon oft genug gehört. Solchen Ermahnungen gegenüber hätten sie höchstens die stereotype Redensart zur Hand „Ja, da Pfarra, der ko leicht redn!“[22] Etwas verlegen meinte darauf der geistliche Herr, allzu grob dürfe er seinen Bauern auch nicht kommen, das ginge nicht. Er sei auf die Bauern angewiesen und müsse mit ihnen leben.

Was es mit dem Angewiesensein und Zusammenleben auf sich hat, ist mir nicht unbekannt. Auch die Bauern wissen sehr wohl darum und schätzen die pfarrherrlichen „Ermahnungen“ mit Augenzwinkern und verständnisinnigem Grinsen gebührend danach ein. Der Herr Pfarrer ist ja auf sie angewiesen und muss mit ihnen leben, lebt nicht nur mit ihnen, sondern, nicht ganz wenig, auch von ihnen und braucht dafür weder Ringe – Ehering hat er sowieso keinen – noch andere Sachwerte hinzugeben. Die hochwürdigen Herren sind in den Notzeiten der letzten Jahrzehnte bei diesem modus vivendi nicht schlecht gefahren. Ich habe es mit eigenen Augen sehen können und habe es mir von anderen, die es auch nicht bloß vom Hörensagen wussten, bestätigen lassen. Ob das ein wünschenswerter Zustand ist, darüber will ich mich hier nicht weiterverbreiten. Die Frage zu entscheiden ist nicht meine Sache. Ich habe dazu kein Amt, höchstens eine Meinung, die zu hören die in dieser Sache zuständigen hilfsbedürftigen Beamteten geringes Verlangen tragen werden. Ich bin nur ein ganz gewöhnlicher katholischer Christenmensch, einer der vom Klerus, zum Schaden der Kirche, wie ich fürchte, immer stark über die Achsel angesehenen Laien, einer der sog. Taufscheinkatholiken, auf die die patentierten Zentrumschristen früher so verachtungsvoll herunterblickten und die bei deren gelegentlichen katholischen Zahlenparaden dann doch gerade noch gut genug zum Mitmarschieren waren. Ich bin kein Konsul, der zum Videre[23] verpflichtet wäre, es will mir aber scheinen, als ob die Konsuln alle Ursache hätten, die Augen offen zu halten. Mir ist es nur darum zu tun, Zustände, die ich als bedenklich für das Volksganze ansehen zu müssen glaube, aufzuzeigen und für solche, die ihr Vorhandensein zu leugnen oder sie zu beschönigen versuchen sollten, mit Beweisen aufzuwarten. Die schöpfe ich aus kleinen Vorkommnissen meines Alltagslebens in der ländlichen Verbannung, Vorkommnissen, die Manchem vielleicht unbedeutend dünken mögen, die aber dem, der sehen will, erschreckend klar offenbaren, wie weit das gräuliche Untier der Massendemoralisation seine Fangarme schon ausgestreckte hat und wie drohend die Gefahr geworden ist, dass das ganze Volk ihm verfällt, wenn und soweit das nicht überhaupt schon geschehen ist.

Wenden wir uns also diesen Vorkommnissen zu. Die Pfarrersköchin, mit der unter einem Dache zu hausen wir das zweifelhafte Vergnügen hatten – es kostete vierzig Mark monatlich für das einfach möblierte Zimmerchen – löffelte von einer richtiggehenden Vollmilch, die noch keiner Verwandlung in der Molkerei unterworfen war, den puren Rahm und nicht von einem Liter allein am Tage. Aber nicht, dass sie den Rahm etwa verbutterte, das hatte sie nicht nötig, da sie mit den sonst für ihren Haushalt notwendigen Fettigkeiten hinreichend versorgt war. Nein, sie verspeiste den Rahm höchst selbst schmatzend und mit Wonne vor unseren Augen. Dass ihr Tun in solcher Zeit auf zuschauende Menschen, denen Vollmilch und Rahm längst unbekannte Dinge geworden und die mit den paar Gramm Fett, die sie auf ihre Marken bekamen, kaum ihre allernotwendigsten Kochbedürfnisse notdürftig befriedigen konnten, aufreizend wirken musste, dafür fehlte dieser Person jedes Gefühl. Sie betonte sogar noch ausdrücklich, dass ihr der frische Rahm von einer guten Vollmilch immer ein besonderer Genuss gewesen. Warum sollte sie sich also versagen, was sie wünschte, wenn sie es doch haben konnte. Und außerdem schmeckte es ihr prächtig, was die Hauptsache war für sie, und etwas anderes kam ja nicht in Betracht. Dass sie ihren Kater, der, wie sie erklärte, Magermilch nicht vertrüge und Durchfall davon bekäme, mit Vollmilch fütterte, ist nach der eben gebotenen Kostprobe nicht mehr verwunderlich. Wir waren froh, wenn wir unsern „blauen Heinrich“ wenigstens nicht sauer bekamen, was oft genug der Fall war, und unsere 70jährigen Mägen mussten ihn auch vertragen, ob sie wollten oder nicht. An Fett, Eiern und Mehl war im Pfarrhaushalt kein Mangel, an Fleisch und Wurst zuweilen sogar Überfluss, so dass es vorkam, dass die Köchin Fleisch stinkend werden ließ und es uns dann anzubieten sich herabließ. Wir mussten diese anrüchige Mildtätigkeit aber dankend ablehnen.

Die Krone setzte die Beherrscherin der Pfarrhausküche ihrem Verhalten dadurch auf, dass sie mit unserer Not im Dorfe hausieren ging, um bei den Bauern für sich noch mehr herauszuschlagen. Dabei strotzte das Frauenzimmer derart von Frömmigkeit, dass sie zeitweise tatsächlich an der Kommunionbank kniete. Wir kamen hinter den tollen Schwindel erst geraume Zeit, nachdem sie ihn in Szene gesetzt und bereits nicht unbeträchtlich davon profitiert hatte. Und zwar geschah das rein zufällig. Eines Tages brach nämlich meine Frau infolge Unterernährung ohnmächtig zusammen, so dass sie wochenlang krank zu Bette liegen musste. Diese Tatsache scheint sich, da wir d. h. unsere gerade zu Besuch anwesende Tochter und ich keinen Grund hatten, ein Geheimnis daraus zu machen, im Ort herumgesprochen zu haben. Was sich daraus als Folge ergab, dass hielten wir zunächst, da wir eine solche Schlechtigkeit einer Erbpächterin von Religion und Christentum nicht zutrauen zu dürfen glaubten, für unmöglich. Die mehrfachen und übereinstimmenden Zeugnisse ehrenwerter und anständiger nichtbäuerlicher Ortseinwohner, denen wir bis zu unserer Evakuierung unbekannt und fremd gewesen waren, ließen aber schließlich keinen Zweifel mehr an der Richtigkeit des folgenden Tatbestandes: Dieses Prachtexemplar von einer Pfarrersköchin hatte sich wahrhaftig kein Gewissen daraus gemacht und sich nicht geschämt, von einem Hof zum anderen zu gehen und den Bauern und Bäuerinnen vorzujammern, sie hätte das Haus voller Leute und wisse nicht mehr wo sie das Notwendige für alle hernehmen solle, so dass die mit solchem Jammer überschütteten zu der Auffassung gelangen musste, sie hätte nicht bloß sich und ihren Pfarrherren, sondern auch noch uns mitzuversorgen, und täte das auch. Nach der Versicherung unserer Gewährsleute haben sie sowohl wie auch die Bauern das als wahr angenommen, und die Bäuerinnen, so sagten sie, hätten ihre Gebefreudigkeit danach eingestellt. Selbstverständlich ermangelten wir nicht, uns mit aller Entschiedenheit gegen eine so unerhört frech verbreitete falsche Darstellung zu wenden und mit Nachdruck auf den wahren Sachverhalt hinzuweisen. Wie notwendig das war, das zeigten die ungläubigen Gesichter, denen fürs Erste unsere Feststellung begegnete, dass wir von den bäuerlichen Spenden für das Pfarrhaus noch nie etwas profitiert hätten und dass wir wie immer allein von unsern Marken leben mussten. Und das war in der schlimmsten Zeit vom Februar 1945 bis zum Februar 1946. Erst allmählich begriffen die Leute, und ihr empfängliches Erstaunen schlug nun in helle Entrüstung über die geschäftstüchtige Pfarrhauszierde um. Sie sorgten auch dafür, dass die Bauern über den Schwindel ins Bild gesetzt wurden, und wir konnten bald beobachten, dass der Spendenstrom nach dem Pfarrhof merklich spärlicher zu fließen begann. Dass die Bauern aber nun etwa uns selbst etwas angeboten hätten – wir wollten ja nichts geschenkt, sondern wären froh gewesen, gegen erträgliche Preise etwas kaufen zu können – das fiel ihnen gar nicht ein. Zu vertauschen hatten wir nichts und in den Höfen herum zu betteln widerstrebte uns. So lebten wir eben nach wie vor recht, aber schlecht von unseren Marken. Nicht einmal das uns darauf Zustehende konnten wir immer erhalten und oft nur unter größten Schwierigkeiten durch einen weiten Weg in den nächsten größeren Ort oder eine Fahrt in die Stadt, die zu jeder Zeit im ersten Jahre nach dem Kriege zum Teil überhaupt nicht möglich und zum Teil mit einem kleinen Martyrium gleichkommenden Hindernissen verbunden war. Nur einmal fügte es ein Glücksfall, dass wir fünfzehn Pfund Weizen von einem Bauern zum normalen Preise kaufen konnten. Aber auch das hatte seine besondere Bewandtnis. Der Bauer, der größte am Ort, der beim Pfarrherrn irgendetwas zu erledigen gehabt hatte, fragte, als ihm bei Verlassen des Pfarrhauses meine Frau in die Hände lief, diese, ob wir Weizen bekommen hätten. Auf die verwunderte Gegenfrage: Woher sollten wir Weizen bekommen haben? sagte er nur kurz: Sie bekommen auch einen, und forderte meine Frau auf, den Weizen in seinem Hof abzuholen. Der Sachverhalt war offenbar der, dass die Pfarrersköchin Weizen erhalten und der Bauer vielleicht angenommen hatte, dass davon auch uns etwas zugutegekommen wäre. Als er merkte, dass das nicht der Fall gewesen, wollte er wahrscheinlich mit Rücksicht auf den Pfarrherrn nicht weiter auf die Sache eingehen. Wir nahmen natürlich die fünfzehn Pfund Weizen gerne an und bekamen dafür zehn Pfund schönes Mehl, für einen armen Normalverbraucher schon eine Sache.

Als wir mitten im tiefsten Winter auf das Land herausgekommen waren, konnten wir ein ganzes Vierteljahr lang Kartoffeln aufgrund unserer Kartoffelkarte überhaupt nicht erhalten. In den in Frage kommenden Geschäfte, bei denen wir uns zum Bezug einschreiben lassen wollten, erklärte man uns, das sei jetzt nicht möglich, wir sollten nur zu den Bauern in unserem Orte gehen, die hätten schon Kartoffel. Die Bauern hin wiederum erklärten, sie hätten jetzt keine zum Abgeben, wir könnten höchstens im Frühjahr, wenn die Mieten aufgemacht würden, welche bekommen. Für ihre Säue hatten sie Kartoffel, denn beim Bauern kommt sein Vieh vor fremden Menschen, auch wenn diese Kartoffeln haben müssen, um sich vor dem Verhungern zu schützen. Uns gelang es schließlich nur mit Mühe, die Pfarrersköchin, die ihren Keller voll Kartoffel hatte, zur leihweisen Überlassung eines kleineren Quantums zu bewegen. Käuflich, erklärte sie uns, könne sie keine abgeben, da sie ihre Hasen damit füttern müsse, deren sie ständig 10 bis 20 Stück unterhielt. In der Pfarrhausrangordnung kamen die Hasen, so schien es, gleich hinter dem Pfarrherrn und seiner Köchin, wie auf dem Bauernhof das Vieh hinter der Familie. Schließlich kann man ja auch in einem Pfarrhaus nicht immer nur Schweinernes, Rind- und Kalbfleisch oder Geflügel und Fische essen, Hasenbraten ist dazwischen auch einmal ganz gut, und die Hasenfelle geben eine schöne Pelzgarnitur für die Jungfer Köchin. Auch werden die Hasen von Kartoffeln im Winter fetter als von Heu und sonstigem mageren Zeug. Also wäre es doch verfehlt, Kartoffel, die man einmal hat, für die Ernährung der Stadtleute auszusparen. Mögen sie sehen, wie sie anderswo dazu kommen.

Die Überschrift dieses Abschnittes „Der Bauer nach dem ersten und nach dem zweiten Weltkrieg“ habe ich gewählt, weil ich von der politischen und wirtschaftlichen Lage des Bauerntums nach dem ersten Weltkriege ausgehend zu der in den Grundzügen ganz ähnlichen, aber in ihren Auswirkungen und Auswüchsen entsprechend der Ungeheuerlichkeit der Katastrophe des zweiten Weltkrieges maßlos übersteigerten heutigen Verhältnisse, ihrer Illustrierung und kritischen Abwandlung gelangen wollte. Es mag dem Leser scheinen, als ob ich hierbei stark auf ein Nebengebiet abgeirrt wäre und dass neben dem Bauernhaus das Pfarrhaus auf dem Lande eine zu breite Behandlung erfahren hätte. Diese Abirrung ist aber nicht ohne eine bewusste Absicht geschehen. Wer weiß, wie eng in den katholischen Gegenden Bayerns das Pfarrhaus noch immer mit dem Bauernhofe verbunden ist, und welche Zusammenhänge und gegenseitigen Einwirkungen durch das „Angewiesensein“ und das „Zusammenleben“ gerade in diesen Zeiten, die weder Für die Bauern noch für den Pfarrer Notzeiten gewesen sind, entstanden, der wird meine „Abirrung“, wenn er sie für eine hielt, verstehen. Ich möchte fast behaupten, dass das Bild der bäuerlichen Lage nach dem zweiten Weltkriege ohne das grelle Licht, das diese Pfarrhausepisoden darauf werfen, gar nicht ganz vollständig gewesen wäre. Und schließlich vergesse man nicht, dass das alles sich als Selbsterlebtes, Selbstgesehenes und Selbsterfahrenes mir bei der Niederschrift meiner Erinnerungen geradezu aufdrängte. Ich hätte diese Erörterungen auch „Das Christentum auf dem Lande“ überschreiben können mit dem Untertitel „Das Christentum im Pfarrhause“. Ich habe es aber dann doch und wieder mit voller Absicht beim Bauern in der Überschrift belassen, weil er mir in den Erörterungen, wenn nicht ihrem Umfang, so doch ihrem Gewicht nach der Kernpunkt zu sein scheint und Religion und Christentum darin eine leider nur ziemlich negative Rolle spielen. Ich bin auch der Meinung, dass diese Dinge eine Entwicklung zum Schlimmen in einem Maße genommen haben, dass es verkehrt wäre, hier immer noch leise zu treten und beschönigend und entschuldigend von Einzel- oder Ausnahmeerscheinungen reden zu wollen, sondern dass es im Interesse der Gesundung dieser Verhältnisse notwendig ist, eine ganz offene Sprache zu führen und alle diese gefährlichen Geschwüre an unserm Volkskörper schonungslos aufzuzeigen. Man kann einer Krankheit mit Erfolg erst zu Leibe gehen, wenn man ihren Charakter im vollen Umfang erkannt hat.

Ich kehre also nach meiner „Abirrung“ noch einmal zu den Bauern zurück. Sie haben heute noch gute, ja glänzende Zeiten. Aber sie sollten sich nicht einbilden, dass das immer so bleiben müsse. Sie sollten sich warnen lassen von einer Vergangenheit, die noch gar nicht so weit zurückliegt und die die Älteren unter ihnen noch selbst miterlebt und empfunden haben.

Auch im ersten Weltkrieg und in der Inflationszeit kannte der Übermut der Bauern – nicht aller, aber sehr vieler – fast keine Grenzen mehr. Es werden wohl noch welche leben, die sich damals ihre Zigarren und Zigaretten mit Geldscheinen, zuletzt mit Millionen- und Milliardenscheinen anzündeten. Auch heute lebt dieser Bauern-Übermut wieder, wenn er auch in anderen, nicht immer so sichtbaren, aber in ihrer Wirkung noch schlimmeren Formen auftritt. Aber wenn es eine göttliche Gerechtigkeit gibt – und ich glaube an sie – dann wird auch wieder die Zeit kommen, in der diesem Übermut ein gehöriger Dämpfer aufgesetzt werden muss. Über kurz oder lang, so oder so. Gottes Mühlen mahlen langsam, mahlen aber trefflich klar. In des Herrgotts Mühlen wird Alles gemahlen, was des Mahlens bedarf. Da macht er auch um der Scheinreligion und der scheinheiligen Frömmigkeit der Bauernwillen keine Ausnahme. Mit Bauernschlauheit und -Pfiffigkeit ist dem Herrgott nicht beizukommen, und auf Geschäfte lässt er sich nicht ein. Die „Sachwerte“ in den bäuerlichen Warenlagern wird er sich sicher einmal sehr genau daraufhin ansehen, auf welche Weise sie erworben wurden, und ich vermute, dass ein Ehering kaum als reelle Ware vor ihm gelten wird. Es kann auch sehr leicht sein, dass der liebe Gott, wenn er sich einmal die Bauern wieder vornimmt, nicht nur auf einzelne Prüfungen sich beschränkt, sondern wie schon einmal vor bald einem Vierteljahrhundert mehr summarisch seinen Zorn ausgießt. Wie es für den wirtschaftlichen Wohlstand eines Landes, mag dieses ihn für noch so gesichert halten, keine Garantie gibt, so gibt es auch keine für einen einzelnen Zweig der Wirtschaft. Das lehrt die Geschichte aller Völker. Selbst ein so reiches Volk wie das englische erlebt das eben an sich. Von uns und unserer verzweifelten Lage gar nicht zu reden. Das sollten sich auch die deutschen Bauern hinter die Ohren schreiben und ja nicht meinen, sie allein seien vor Zeiten sicher, die ihnen nicht gefallen werden. Das Traurige und Tragische ist nur, dass dabei auch wir anderen alle wieder Mitleidtragende sein werden.

Das erneute Ringen des Bolschewismus um die Macht im Staate

Nach dem Kapp-Putsch und dessen kläglichem Scheitern schrieb ich am 28. März 1920 in der Allgemeinen Zeitung:

„Das ganze Bild hat sich in den acht Tagen, seit die Ereignisse spielen, vollständig verschoben. Der Putsch von rechts ist erledigt und abgetan, und es macht ganz den Eindruck, als ob er nur eine Art Vorspiel gewesen wäre zu dem Hauptdrama, das jetzt in Szene geht: Das Ringen des Bolschewismus um die Macht im Staate. Wenn Bayern diesen Kampf nur für sich allein auszutragen hätte, so brauchte man um seine Zukunft nicht bange zu sein. Die paar großen Städte sind hier auf die Dauer nicht imstande, das ganze Land zu terrorisieren. Das Land ist entschlossen und hat auch Mittel und Wege, sich mit Erfolg dagegen zu wehren. Die Einwohnerwehren sind im Großen und Ganzen recht zuverlässig und wohlorganisiert. In Südbayern würde auch, falls der Streik noch länger gedauert hätte, alsbald eine für die Streikenden sehr gefährliche Gegenbewegung eingesetzt haben, ein Bauern- und Bürgerabwehrstreik, für den bereits alles bis ins Kleinste vorbereitet war. Und unsere südbayerischen Bauern sind willens, gegen Unruhen in den Städten selbst mit bewaffneter Hand einzuschreiten. Die Bauern wissen heute, dass sie nicht warten dürfen, bis der Bolschewismus zu ihnen hinaus aufs Land kommt, sondern dass sie ihm an seinen Entstehungsherden in den Städten und Industriegebieten zu Leibe gehen müssen, noch bevor er sich dort gefestigt und alles seiner Herrschaft unterworfen hat.

Das Ringen des Bolschewismus um die Macht im Staate setzte tatsächlich von da an immer schärfer wieder ein, und die Entwicklung im Reiche außerhalb Bayerns wurde zeitweise höchstbedenklich und gefährlich. Man denke nur an die Aufstände im Ruhrgebiet, in Hamburg, in Mitteldeutschland usw. Bayern allerdings blieb im Großen und Ganzen verschont. Hier hatte man noch von 1919 her genug und wenig Neigung, eine Neuauflage dieses Unfugs zu dulden.

Ich möchte dieses Kapitel abrunden durch die Worte, mit denen ich am 18. Juli 1920 einen Artikel in der Allgemeinen Zeitung schloss:
„Das zweite Ministerium Kahr[24] wird also in der Hauptsache nichts weiter als eine Neuauflage des ersten sein. Wie auch seine Politik nur eine Fortsetzung der bereits seit den Märztagen von ihm getriebenen darstellen dürfte: eine Politik der Erhaltung und des Aufbaues, soweit die Diktate von Spa[25] bzw. ihre Durchführung uns die Möglichkeit und die Mittel dazu lassen. Eine mühselige, undankbare, weil fast aussichtslose Arbeit. Unser Volk ist freilich nur allzu sehr geneigt, im Dahinleben des Alltags immer wieder zu vergessen, dass unser ganzes Sein als Nation wie als Individuen unter dem furchtbaren Druck des Vae victis! (Wehe den Besiegten!) steht und voraussichtlich noch jahrzehntelang stehen wird und dass schließlich auch von uns gilt, was der Dichter von „Dreizehnlinden“ singt:

Schlechte Menschen, schlechte Zeiten,
Allen wird, was sie verdienen
Und die Freiheit nur dem Wackern,
Die der Freiheit sich erkühnen.“

Wenn ich vor vierzig bis fünfzig Jahren aus meiner politischen und rein menschlichen Überzeugung heraus Manches niederschrieben, was heute prophetisch klingen oder dem Leser dieser Eindruck erwecken mag, so lag mir – ich habe das schon wiederholt betont – in dem Augenblick, als ich damals meine Gedanken zu Papier brachte, nichts ferner, als mich damit als Prophet aufspielen zu wollen. Mein Lebensweg brachte es mit sich, dass ich schon in frühester Jugend fast alle über mein Leben und mein Schicksal entscheidenden Entschlüsse selbst und ganz allein fassen musste. Das brachte naturgemäß in mein ganzes Leben schon in jungen Jahren einen ernsteren Zug, als er bei Menschen in diesem Alter sonst vorhanden zu sein pflegt. Ebenso begreiflicherweise förderte dieser Umstand das an sich schon in mir wurzelnde und durch meinen leidenschaftlich geliebten Beruf weiter ausgebildete Bestreben, allen Dingen, wo und wie nur immer möglich, auf den Grund zu gehen. Wer als Journalist der Politik, losgelöst von allen parteipolitischen, wirtschaftlichen und privaten Interessen und nur von dem allgemeinen Wohlergehen seines Volkes und Vaterlandes geleitet, berufsmäßig sich widmet, wird häufig in die Lage kommen, aus in seiner Tätigkeit erkannten, namentlich wenn diese unerfreulicher und bedenklicher Natur sind, Schlüsse zu ziehen, die den Charakter von Warnungen tragen. Solche Warnungen können später, wenn der Warner selbst vielleicht längst nicht mehr lebt, zu Prophezeiungen werden, die gar nicht in seiner Absicht lagen. Prophet wider Willen! Er dachte nicht ans Prophezeien, er wollte nur warnen, auf Wegen weiter zu wandeln, die er klar und unzweideutig als verderblich erkannt und die nach seiner Überzeugung ins Unglück führen mussten. Ich bin kein Freund und halte nichts von jenen „echten“ Prophezeiungen, die in Zeitläufen, wie wir sie nun seit bald einem halben Jahrhundert durchleben, im Volke umgehen und aus pseudoreligiösen, hellseherischen, astrologischen und ähnlichen wenig vertrauenswürdigen Quellen hervorsprudeln. Die Warner, die zu unfreiwilligen Propheten geworden, sehe ich dagegen mit anderen und mit sehr ernsten Augen an. Dass ich selbst zu ihnen gehöre, dafür kann ich nichts, und ich rechne es mir auch nicht etwa als Verdienst an.

In der Kategorie dieser letzteren Prophezeiungen zählt auch eine, von der ich jetzt noch sprechen möchte, weil sie mir ganz zufällig vor Kurzem bei der Lektüre von Friedrich Theodor Vischers[26] „Auch Einer“[27] begegnete. Dieses Buch hat Vischer im Jahre 1879 geschrieben. Er selbst ist 1887 gestorben. Es ist wichtig für das Kommende, diese Zeiten festzustellen. Auch bei der Prophezeiung in dem Vischerschen Buche handelt es sich um Schlussfolgerungen, gezogen aus Erscheinungen, die im deutschen Volke in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts nach dem deutsch-französischen Kriege sozusagen im aller ersten Stadium zu Tage traten, aber trotzdem bereits als drohende schwere Gefahren erkannt wurden. Wenn die daran geknüpfte Prophezeiung schon den (Vischer nämlich), der sie 1865 vernahm und 1879 im Druck erscheinen ließ, also zu einer Zeit, da Deutschland im Zenith seiner Macht und seines Ansehens in der Welt stand, so heftig erschreckte, so hat sie den, dem sie jetzt erst zu Gesichte kam, geradezu frappiert. Könnten Vischer und sein Freund A. E. (Albert Einhart) heute sehen, wie ihre damaligen Befürchtungen schauerliche Wirklichkeit geworden sind, sie würden staunen und tief unglücklich sein. Sie hat etwas Unheimliches an sich die Prophezeiung in dem Vischerschen Buche, obwohl oder gerade weil sie nur die Schlussfolgerung eines scharfen Verstandes ist. Vischer lässt also seinen Freund A. E. reden, der von einem Disput erzählt, den er im Spätherbst 1865 mit „Schwyzer Mannen“ in Brunnen über die deutsche Frage hatte.

„Fängt einer an: „Ja, die Dütschen! s’ist nüt und wird nüt“, ich fahr’ auf, weis‘ ihn zurecht, man droht mir, aber da sie sehen, dass ich keinen Teufel fürchte, haben sie mich in Ruhe gelassen. Inzwischen, es kommt jetzt anders, Sie werden sehen, aus diesem Wirrwarr entsteht etwas. So gewiss glaub’ ich’s, meine es schon zu sehen, dass mir schon vor den nächsten Folgen bang ist, wenn das Deutsche Reich aufgebaut sein wird.“

„Da sind Sie doch mehr als eine Wetter-Kassandra! Was für Folgen?“

„Sehen Sie, die Deutschen können das Glück und die Größe nicht recht vertragen. Ihre Art Idealität ruht auf Sehnsucht. Wenn sie’s einmal haben – vielleicht erleben wir’s, geben sie acht – und nun nichts mehr zu sehen ist, so werden sie frivol werden, die Hände reiben und sagen: unsere Heere haben’s ja besorgt, seien wir jetzt recht gemeine Genuss- und Geldhunde mit ausgestreckter Zunge.“

Ich erschrak, wollte es nicht glauben, und erschrak doch.

An dieser Stelle angelangt, erlaube ich mir dem Leser eine kurze Unterbrechung: Seit es nach und nach kam, wie es nun gekommen, seit Unehrlichkeit, Betrug, Fälschung, Fäulnis in mancher Art tiefer und tiefer in das Blut unserer Nation sich einfrisst, muss ich täglich dieser Prophetenworte gedenken. Ja, ich bekenne, vielleicht hätte ich trotz meinem Vorsatz es doch unterlassen, den unbequemen Sonderling zu schildern, wenn nicht diese Weissagung zu melden wäre, die so leidig eingetroffen ist.A.E. legte mir, den er sehr nachdenklich sah, jetzt die Hand auf den Arm und sagte:
„Nehmen wir’s auch nicht zu schwer, eine anständige Minorität wird bleiben, eine Nation kann so etwas überdauern. Es bedarf dann eines großen Unglücks, und das wird kommen in einem neuen Krieg, dann werden wir uns aufraffen müssen, die letzte Faser daransetzen, und dann wird’s wieder besser und recht werden.“

„Ob auch dies in Erfüllung gehen wird?“

Mit dieser Frage schließt Vischer das seltsame Gespräch mit seinem Freund A. E. ab. Man schrieb, um es zu wiederholen, das Jahr 1879, als Vischer diese Frage stellte. Heute (1947) könnten wir ihm die Frage beantworten, aber die Antwort würde ihn sicher wenig befriedigen, wenn er sie hören könnte. In Erfüllung gegangen, und zwar noch viel furchtbarer, als die beiden sich das wohl vorgestellt haben mögen, ist das angekündigte große Unglück, das sich leider nur zu prompt eingestellt hat, rund ein halbes Jahrhundert, nachdem das Unheilswort den Lippen des Sehers entflohen war. Aber seine dem erschreckten Freunde zum Troste angefügte Verheißung, dass es dann wieder besser und recht werden würde, ist nicht in Erfüllung gegangen. Denn das erste große Unglück hat nur ein zweites noch viel größeres nach sich gezogen. Und ob es nun vielleicht wieder besser und recht werden wird, auf diese Frage würden heute wohl nicht allzu viele ernstdenkende Deutsche mit einem freudigen Ja antworten.

Wenn alles gut ginge, wofür allerdings nicht einmal schwache Anzeichen vorhanden sind, wohl aber solche für das Gegenteil, könnten wir, so hoffen unentwegte Optimisten wenigstens immer noch, im Laufe des Jahres 1948 – drei Jahre nach Kriegsende, so dass es also wirklich nicht mehr zu früh wäre – möglicherweise den Frieden haben, einen Frieden, wie Deutschland noch keinen, solange sein Name in der Geschichte verzeichnet steht, hat schließen müssen. Es würden dann gerade 300 Jahre vergangen sein, dass wir nach einem 30jährigen Kriege, der Deutschland verwüstete und entvölkerte, gewissermaßen wieder von vorne beginnen und ein neues Deutschland aufbauen mussten, und 30 Jahre, dass wir nach einem vierjährigen Kriege von bis dahin nicht erlebten Ausmaßen einen Frieden – nicht schließen konnten, den wir dann ein Jahr später durch Diktat auferlegt bekamen. Die drei tiefsten Tiefpunkte in der an Tiefpunkten so reichen deutschen Geschichte! Ob wir uns aus dem letzten tiefsten Tiefseegraben noch einmal herausarbeiten werden? Wer möchte hier prophezeien! Kann das schärfste Auge irgendwo auch nur einen schwachen Silberstreifen am politischen Horizont entdecken? Woher soll ein Volk, dessen von dem katastrophalen Unglück des Vaterlandes kaum berührter kleinerer Teil in schnöder Erwerbsgier und schrankenlosem Eigennutz, denen selbst mit allerdings auch nicht immer ernst und scharf genug durchgeführten Zwang nicht wirksam beizukommen ist, dem völligen Vorkommen und langsamen Hungertode des anderen größeren Teiles gleichmütig zuzusehen vermag, ein Volk also, das aus sich selbst nicht den Willen aufbringt, das gemeinsame Unglück gemeinsam zu tragen, woher soll ein solches Volk den Mut und die Kraft nehmen, sein vollständig zerstörtes Haus neu aufzubauen, wenn man ihm so ziemlich alles, was dazu notwendig ist, verweigert? Wie soll ein Volk in der physischen, geistigen und moralischen Verfassung des deutschen nach einem in den bayerischen Formen und mit ungeheuren Opfern an Gut und Blut bis zum Weißbluten geführten Kriege, nach einem Zusammenbruch ohnegleichen, nach sich anschließenden, nicht absehbaren Jahren fremder Besatzung, die gerade wieder den vom Unglück sowieso schon am Schwersten betroffenen Volksteil am Meisten belastet, bei einem friedlosen Hungerleben von Millionen in Ruinen und Löchern, nach erbarmungslosen Kältewintern und sommerlichen Dürrekatastrophen zu Hoffnungen auf eine bessere Zukunft sich aufraffen? Ist es nicht ein Hohn, einen solchen der Verzweiflung ausgelieferten Volke, dem man die besten und nächstliegenden Möglichkeiten, durch Arbeit sich wieder einen festen Boden unter den Füßen zu schaffen, nimmt, dem man nur so viel zugesteht, dass es nicht gerade sofort und gänzlich verhungert oder erfriert, den Vorwurf zu machen, es wisse sich selbst nicht zu helfen und vermöge keine Initiative zu entwickeln? Ich fürchte, auch Vischer und sein Freund wären da um einen Trost verlegen. Denn wo soll Trost herkommen, wenn kein Ausweg aus verzweifelter Not mehr sichtbar ist?

Wie ausgezeichnet übrigens charakterisiert F. Th. Vischers Freund das politische Gefühlsleben der Deutschen, das, in seiner praktischen Bekundung so wenig politischen Sinn offenbart, wenn er sagt, die Deutschen könnten das Glück und die Größe nicht vertragen, ihre Art Idealität ruhe auf Sehnsucht hätten sie das Ersehnte, dann würden sie frivol, recht gemeine Genuss- und Geldhunde mit ausgestreckter Zunge. Ja wahrhaftig, ist es, war es nicht so? Finden wir es nicht auf so vielen Blättern deutscher Geschichte bestätigt, dass wir, dass unsere Vorfahren das Glück und die Größe nicht vertragen konnten? Haben sie nicht immer in der Sehnsucht nach großen Zielen sich verzehrt und sind hart und zäh im Erstreben solcher Ziele gewesen? Und wenn sie sie dann endlich erreicht hatten und es darauf ankam, das Erreichte festzuhalten, dann versagen sie. Das Schicksal sandte ihnen von Zeit zu Zeit große Männer, die sie den ersehnten Zielen entgegenführten. Um das Gewonnene zu bewahren und zu verteidigen, fehlten ihnen die zur Führung geeigneten Männer oder diese waren nicht da, wo sie hingehört hätten und notwendig gewesen wären.

Man hat eine Kollektivschuld des deutschen Volkes für den letzten Krieg und alles, was in ihm geschehen, konstruieren wollen, indem man die Kriegsverbrechertheorie auf ein ganzes Volk anzuwenden versuchte.[28] Welchem Zweck das dienen sollte, ist klar: Man hoffte damit das deutsche Volk ein für alle Mal in der ganzen Welt so in Grund und Boden diskreditieren zu können, dass ihm dadurch jede Möglichkeit, jemals wieder zu irgendwelcher politischen Macht und entsprechender Bedeutung zu gelangen, abgeschnitten würde. Das ist, nüchtern gesehen, auf der Gegenseite auch schon der wahre und letzte Zweck des ja auch von ihr gewollten und (allerdings erst für einen späteren Zeitpunkt) beabsichtigten Krieges gewesen und wird erst recht der Zweck des Friedens sein.[29] Was sonst darüber gesagt und beschrieben wird, namentlich von offizieller und offiziöser englischer und französischer Seite, sind Phrasen für die eigene Propaganda, nichts weiter. Wir sollen und werden sein ein Satellitenstaat niedrigster Ordnung trotz angeblicher Demokratie, Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und dergleichen auch nach noch  so später Aufhebung der Besatzung, der hohen Kommissar-Regierung und noch späterer der uns aufzuerlegenden Überwachung. Die Frage ist bloß, ob es ein angelsächsischer oder ein russisch-bolschewistischer sein wird.

Eine Kollektivschuld eines ganzen Volkes aber gibt es nicht. Man kann sie einem besiegten Volke, das sich nicht wehren kann, wohl andichten, man kann, wenn man die Macht dazu hat, dieses Volk sogar dafür bestrafen, aber man kann ein Volk nicht zwingen, an die ihm angedichtete Kollektivschuld zu glauben. Auch das deutsche Volk nicht.[30] Es ist nicht wahr, dass es in seiner großen Masse von den Untaten der Nazis gewusst hat und damit einverstanden war. Der Kreis, der mit auch nur einiger Bestimmtheit und nicht nur durch leise und heimlich herumgeflüsterte, ungreifbare und unkontrollierbare Gerüchte davon Kenntnis hatte, was bis zum Kriege und auch noch bis in die letzten Jahre des Krieges hinein verhältnismäßig sehr klein. Denn diejenigen, die Sicheres davon wussten, haben aus begreiflichen Gründen wenig oder meist wohl gar nicht darüber gesprochen, und selbst Leute, die aus dem KZ kamen, hüteten sich im Allgemeinen sehr, über ihre Erfahrungen und Erlebnisse ausführlicher zu sprechen. Wenn man so einen fragte, dann bekam man gewöhnlich – mir selbst ist das einige Male passiert – die kurze Antwort: Das können Sie sich ja leicht selbst vorstellen, oder so Ähnliches. Wollte man Näheres wissen, so stieß man in der Regel auf glatte Verweigerung jeder weiteren Erklärung. Auch das ist nichts Außerordentliches und Ungewöhnliches. Die Leute waren eben derart eingeschüchtert und infolgedessen auch äußerst misstrauisch, dass sie nicht zu sprechen wagten oder wenn schon, dann höchstens im allervertrautesten und engsten Kreise und auch das oft nicht.

Um wieder von der Schuld zu reden: Die große Schuld der Deutschen war, dass sie so dumm waren, in der ihnen durch ihre Gegner bereiteten Not und Bedrängnis einem demagogischen Rattenfänger und größenwahnsinniger Verbrecher ins Garn zu gehen. Für diese Schuld müssen sie jetzt zum Teil in der Natur der Dinge liegendes unvermeidliches, zum andern größeren Teil jedoch ihnen von den anderen mit dem Machtrechte der Sieger auferlegtes unermessliches Leid ertragen.[31] Schade, dass die heutigen Weltbeherrscher nicht schon früher auf ihre brillante Kriegsverbrechertheorie verfallen sind! Was hätte da im Verlaufe der letzten Jahrhunderte für schöne Gelegenheiten zu ihrer Anwendung gegeben! Um nur an einige wenige Beispiele zu erinnern: im Burenkriege mit dem typischen Kriegsverbrecher Jameson und der so überaus menschenfreundlichen Erfindung der Konzentrationslager durch die Engländer mit Tausenden von Burenfrauen und -Kindern als Opfer, in den indischen Kolonialkriegen und im Amerika des 18. und 19. Jahrhunderts mit der Ausrottung einer ganzen Menschenrasse. Und was für geradezu klassische Objekte für die Kriegsverbrechertheorie hätten Napoleon und Ludwig XIV. abgegeben! Wo blieb denn da die Menschenfreundlichkeit und die Humanität? Erst als die großen Habenichtse der Welt kamen und für ihre Millionen auch noch ein bescheidenes Stückchen Lebensmöglichkeit haben wollten, da kam auf einmal gegenüber solch’ unerhörter Forderung über die edlen Menschenfreunde und Humanisten eine so maßlose Erregung, dass sie nicht länger sehr menschenfreundlich und human bleiben konnten. Ja, der Satte hat es leicht, den anderen Menschenfreundlichkeit und Humanität, Bescheidenheit und Zufriedenheit zu predigen, wenn Hungernde etwas von ihm haben wollen.[32] Das ist im Privatleben so, und im politischen Völkerleben ist es nicht anders. Wie kommen die Satten dazu, nachdem sie selbst fast alles was sie besitzen, auch nur mit Gewalt und sicher nicht mit Menschenfreundlichkeit und Humanität sich angeeignet haben, den Hungernden vorschreiben zu wollen, wie viel oder richtiger wie wenig sie besitzen und verbrauchen dürfen, was das einzelne Volk für sein Leben beanspruchen darf von den Gütern der Erde, über die sie das Verfügungsrecht sich anmaßen im Namen der Menschenfreundlichkeit und der Humanität, der Demokratie und Freiheit natürlich. So ungefähr also sieht der garantiert ewige Weltfriede aus, auf dem die beati possidentes ihre Weltherrschaft errichten wollen: Und alles und Euch so viel, als wir – im Interesse des Weltfriedens natürlich, das sich nur ganz zufällig mit unsern eigenen Interessen deckt – für gut und zweckmäßig befinden.

Dass sich auf dem unsinnigen Kriegsabschluss von 1918/19 kein ewiger Weltfriede, wie ihn die Sieger so schön bereits an die Wand gemalt hatten, würde aufbauen lassen, um das zu erkennen, brauchte man nicht einmal gewichtige politische Sachverständige zu bemühen, dass sah sogar der vielzitierte sog. kleine Mann von der Straße ein. Ob die Sieger von 1945, wenn sie einmal ihren Frieden diktiert haben werden, dabei klüger zu Werke gehen, muss sich erst erweisen. Wir werden dabei noch weniger mitzureden haben als beim Kriegsabschluss von 1919. Wir sind nur passiv dabei beteiligt insofern, als auf unserem Rücken die Zukunft der Welt und unser eigenes Schicksal ausgekocht wird.[33]

Viel zu unserem Unglück hat neben unserer eigenen politischen Ungeschicklichkeit und Naivität übrigens, das wollen wir nicht übersehen, Deutschlands unglückselige geopolitische Lage mitten in dem in übermäßig viele Nationen, Völkerschaft und Sprachgebiete auf gespaltenen kleinen alten Erdteil Europa beigetragen. Rings von schärfsten Konkurrenten und rücksichtslosen Feinden umgeben, die unser Emporkommen stets mit missgünstigen und neidischen Augen verfolgten und sich gegen die „deutsche Gefahr“ zusammenschlossen, hätten wir es uns nicht leisten dürfen so, wie wir es leider taten, uns im Innern unter uns selbst in fanatischen religiösen und sozialen Kämpfen zu zerfleischen und auf diese Weise den andern bequeme Handlungen zu bieten, dass sie uns immer wieder zurückwerfen und alles mühsam Errungene wieder entreißen konnten. Während die anderen die Welt unter sich verteilten, hatten wir nichts Besseres zu tun, als uns, womöglich noch mit Hilfe eines zu solchem Tun stets gerne bereiten fremden Nachbars, gegenseitig totzuschlagen. Und den kleinen Erdenrest, den Bismarck und die großen Kolonialpioniere seiner Zeit uns im letzten Augenblick noch zu retten vermochten, haben die diplomatischen Nieten Wilhelm II. und sein unglaublicher Bethmann Hollweg durch ihre geniale Friedens- und Kriegspolitik alsbald wieder verwirtschaftet.[34]

Verlieren wir jedoch bei all dem nicht die Tatsache aus dem Auge, dass die Technik, dieses Unglück der Menschheit, mit ihrer ins Groteske steigenden Entwicklung die Welt immer kleiner werden lässt, so kann uns die Beobachtung nicht überraschen, dass damit auch die günstige oder ungünstige geopolitische Situation der einzelnen Völker eine immer größer werdende Bedeutung erlangt. Nur die Völker, die über weite Räume mit den wichtigsten Rohstoffen verfügen, können und werden in der Zukunft ausschlaggebende politische Rollen spielen, während die andern nur als Trabanten von ihren Gnaden leben werden. Heute hat sich diese Situation schon so weit entwickelt und geklärt, dass eigentlich nur noch drei oder genau genommen sogar nur noch zwei Konkurrenten – England wächst sich mehr und mehr zu einem bloßen Anhängsel der U.S.A aus – um die Weltherrschaft ringen: Amerika und Russland, das angelsächsische privatkapitalistische Unternehmertum und der russische staatskapitalistische Bolschewismus. Dass in England augenblicklich ein gemäßigter Sozialismus an der Macht ist, dürfte dabei kaum von erheblicher Bedeutung sein. Denn er wird wahrscheinlich über kurz oder lang dem konservativen privatkapitalistischen Unternehmertum oder dem vom Osten her importierten Bolschewismus weichen müssen. Ob und wie etwa später einmal neben dem angelsächsischen und dem russischen Koloss in Asien oder Afrika noch neue selbständige politische Großraumgebilde entstehen könnten, ist eine Frage einer jedenfalls nicht ganz nahen Zukunft, bei deren Lösung so viele und so vielerlei Faktoren mitsprechen, dass jede Voraussage darüber müßig wäre.

Ich möchte dieses Kapitel schließen mit einem Appell an die deutsche Jugend:
Lasst Euch die deutsche Geschichte, die sich neben jeder anderen immer noch wird sehen lassen können, lasst Euch die wirklich großen deutschen Männer, die sich vor denen anderer Nationen nicht zu verkriechen brauchen, nicht verekeln! Studiert die deutsche Geschichte, aber nicht deutsche Geschichte in einer für die gegnerische Propaganda zurechtgemachten Form, und bildet Euch ein eigenes Urteil! Ich spreche von der Geschichte im Allgemeinen, von der Kulturgeschichte, der wirtschaftlichen und technischen, aber auch der politischen und militärischen. Wir wollen uns nicht überheben über andere Nationen, die auch ihre Geschichte, ihre großen Männer und ihren Anteil am Fortschritt der Menschheit haben. Wir haben unsere Fehler und Schwächen wie die anderen und wollen davor unsere Augen nicht verschließen. Wir wollen das Gute anerkennen auch, wenn wir es bei den andern finden, und das Schlechte erkennen auch, wenn wir es bei uns selbst feststellen müssen. Aber wir haben es nicht nötig, auch in unserer heutigen Lage nicht, vor den andern auf dem Bauche zu kriechen und ihnen die Stiefelsohlen zu lecken, uns zu entwürdigen und zu erniedrigen, alles Fremde anzubeten, nur weil es fremd ist, und auch über das Gute am deutschen Wesen und in der deutschen Geschichte wegwerfend hinwegzusehen und hinwegzugehen oder es gar verächtlich zu machen.

Lasst Euch Euer deutsches Vaterland nicht verekeln und minderwertig machen! Es ist leicht und schön, ein Vaterland der Macht und der Größe zu lieben und stolz darauf zu sein, viel schwerer, aber ehren- und verdienstvoller vor Gott und dem anständigen deutschen Mitmenschen ist es, treu und fest zu einem gedemütigten und niedergetretenen Vaterlandes zu stehen und es auch in der größten Not und Bedrängnis nicht zu verleugnen, sondern standhaft bei ihm auszuharren. Wahre Deine Würde deutsche Jugend! An Dir ist es, dem deutschen Volke die verloren gegangene Achtung der Welt wiederzuerringen. Du wirst die Achtung der andern nur gewinnen können, wenn Du dich selbst achtest. Lasst Euch nicht von dem blöden Gerede übertölpeln, dass das deutsche Volk wieder das Volk der Dichter und Denker werden müsse. Diese plumpe Zweckschmeichelei soll ja nur unsere Aufmerksamkeit von dem wahren Ziele der anderen ablenken, das dahin geht, den Deutschen ihren Anteil am politischen und wirtschaftlichen Leben der Welt, den sie für ihr Eigenleben als Nation und Volk so gut wie jedes andere Volk brauchen und beanspruchen dürfen, zu schmälern und so klein und bescheiden wie nur irgend möglich zu halten. Nicht dazu nur sind die beiden Weltkriege geführt worden, um den deutschen Militarismus und Nationalismus – die Militarismen und Nationalismen der Sieger blühen und gedeihen unterdessen üppiger denn je weiter – und den Nationalsozialismus aus der Welt zu schaffen, sie sind viel mehr noch und vor allem geführt worden, um Deutschland endgültig von seinem Platz an der Sonne in der Welt zu verdrängen. Das ist ihnen leider und nicht ohne unsere Schuld gelungen.

Unsere Lage ist fast hoffnungslos und verzweifelt. Unsere einzige Hoffnung ruht auf der deutschen Jugend. Versagte sie, dann müsste das letzte Blatt der deutschen Geschichte, der Geschichte Deutschlands als selbständiger, unabhängiger Staat und der Deutschen als Nation wohl bald, jedenfalls noch in diesem Jahrhundert mit dem finis Germaniae abgeschlossen werden. Aber die deutsche Jugend soll und darf nicht versagen, sie braucht nicht zu versagen und nicht zu verzagen. Aus dem Verlauf der Menschheitsgeschichte darf sie und dürfen wir mit ihr Hoffnung schöpfen. Immer, soweit die Geschichte uns vom Weltgeschehen zu erzählen weiß, haben die zu Besitz und Macht Gelangten, die beati possidentes, versucht, diesen ihnen angenehmen Zustand zu verewigen, indem sie feste Garantie-Schutzmauern für einen dauernden Bestand errichteten durch möglichst weitgehende Vernichtung ihrer Feinde, durch mehr oder minder harte Friedensverträge, durch Chartas, Bünde, Koalitionen und was es sonst für solchen Zweck noch geben mochte. Der gewünschte Dauererfolg ist aber nie erzielt worden. Selbst Weltreiche haben das nie vermocht. Denn sobald die Voraussetzungen, unter denen die Garantien geschaffen wurden, nicht mehr gegeben waren, begann das Garantiegebäude abzubröckeln und stürzte schließlich in sich zusammen. Ob heute Atombomben oder andere technische Wunder Weltreichen einen Dauerzustand zu garantieren vermögen, weiß ich nicht, aber ich glaube es nicht. In hundert, ja vielleicht in fünfzig oder noch weniger Jahren schon kann die Welt wieder ein ganz anderes Aussehen haben, wenn das furchtbare Ungeheuer, die Technik, neue, noch wirksamere Instrumente und Mittel für den Völkermord ausgebrütete und die Welt damit beglückt haben wird.

Immer noch gilt das alte griechische payta zei, alles fließt, alles ist in Bewegung. Auch im Völkerleben und in der Geschichte. Und das berechtigt zu Hoffnungen. Nur müssen wir auch selbst dazu das Unsrige tun, um den Fluss der Dinge ein wenig in unserem Sinne zu gestalten, soweit wir dazu noch Möglichkeiten haben werden. Es genügt nicht, müßig mit den Händen im Schoss dazusitzen und auf bessere Zeiten zu warten. Anfangen müssen wir mit dem Besserem bei uns selbst, jeder einzelne bei sich. Ich habe von Selbstachtung gesprochen. Sich selbst achten heißt ein anständiger Mensch sein in der Gesinnung und im Handeln. Ein Volk setzt sich aus Einzelnen zusammen. Hat einmal ein beträchtlicher Teil der Einzelnen auf solche Weise seine Selbstachtung wiedergewonnen, dann wird allmählich auch das Volk als Ganzes dazu gelangen. Solange ein Volk keine Achtung mehr vor sich selber haben kann, kann es auch nicht den Anspruch erheben, von den andern geachtet zu werden. Wir müssen heraus aus dem tiefen Sumpf, in den wir geraten sind. Nur wenn wir von dem moralischen Schmutz, in dem wir zu ersticken drohen, uns zu reinigen vermögen, werden wir auch loskommen von der herrschenden volksverderbenden Philosophie des „Wenn nur ich“, an deren Stelle eine gegenteilige treten muss, die etwa in dem Satze gipfelt:
Je besser es allen geht, desto besser geht es auch mir selbst.[35]

Anmerkungen

[1] Siehe zu dem ganzen Komplex Zentrum, Auseinandersetzung mit kath. Reformbewegung, Bayern etc., Bd. I Seiten 43-53 ff

[2] Es geht um die 1. Marokko-Krise 1904 bis 1906. Frankreich und das Deutsche Reich stritten um die imperiale Vorherrschaft in Marokko. Das Deutsche Reich setzte zwar eine internationale Konferenz in Algeciras (Andalusien), war unter den Großmächten jedoch völlig isoliert (https://de.wikipedia.org/wiki/Erste_Marokkokrise). Die Marokko Krise 1 und 2 (1911) waren sozusagen das „Vorspiel nur“ zum Weltkrieg I.

[3] Stadt Algeciras, Andalusien, in der Nähe von Gibraltar.

[4] Siehe dazu auch: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/kaiserreich/aussenpolitik/marokko-krise-190506.html

[5] Nicht vorhersehbare Ereignisse

[6] Zur Telegrafen-Union siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Telegraphen-Union

[7] Leider klärt CF nicht auf, weshalb für ihn der Ausbruch des Krieges feststand, abgesehen davon, dass die Konflikte, etwa die „Marokko-Krise“ etc.  als Vorboten gelesen werden können, von denen CF andernorts berichtete. Siehe zu der Ermordung des Franz Ferdinand auch: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/erster-weltkrieg/kriegsverlauf/attentat-von-sarajewo.html. Nun, 100 Jahre später, schaffen Revanchisten und Kriegsschuldleugner es auf Spiegel-Bestsellerlisten (z.B. Thorsten Schulte, der sich mit willkürlich aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten seine „Welt“ erdichtet, wie sie ihm (und Konsorten) gefällt.

[8] Handlungsbevollmächtigter, Geschäftsführer

[9] Das war ebenfalls eine Nachrichtenagentur. Siehe dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Wolffs_Telegraphisches_Bureau

 

[10] Im Nachinein

[11] An der Isar gelegene Gemeinde nahe München.

[12] Ungeklärt: https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeine_Zeitung

[13] Georg Eisenberger, siehe auch das Foto unter https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Eisenberger; „Darin finden sich auch antisemitische Formulierungen (bereits 1895 hatte Eisenberger gefordert, Handwerker und christliche Geschäfte zu unterstützen und nicht das „Großkapital, das meist jüdisch“ sei). Allerdings hatte er bereits ein halbes Jahr vor dem Putsch von 1923 im Reichstag vor den „Hitlerbuben“ gewarnt, deren „Bewegung leider in ihrer Bedeutung von unserer Regierung unterschätzt worden ist“ und die „das Wirtschafts- und Ernährungsproblem in der Weise lösen wolle, dass man alle Juden aufhängt“.

[14] Siehe dazu auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Alm_(Bergweide)#Geschichte

[15] Im Sinne von besorgt sein

[16] Über den US Präsidenten Woodrow Wilson siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Woodrow_Wilson

[17] Siehe zum Vertrag von Versailles: https://www.deutschlandfunk.de/100-jahre-friedensvertrag-die-buerde-von-versailles.724.de.html?dram:article_id=452505

[18] Bereits hier deutet sich an, was europäische Historiker noch im 21. Jahrhundert bewegt. Eine ausführliche Diskussion bis zu aktuellen Forschungsstand findet sich unter https://www.bpb.de/apuz/182558/julikrise-und-kriegsschuld-thesen-und-stand-der-forschung

[19] Über Heinrich Held: https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Held_(Politiker)

[20] Zu Johannes Neuhäusler: https://www.gedenkstaettenpaedagogik-bayern.de/Bunker/neuhaeusler.htm

[21] „Das hätte er nicht grad vor all den anwesenden Stadtleuten sagen müssen“.

[22] „Ja, der Pfarrer hat gut reden“.

[23] „… zum Sehen …“

[24] Gustav von Kahr: https://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_von_Kahr
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, was CF auch retrospektiv nicht erwähnt: „Nach dem Erlass der Republikschutz-Verordnung im Anschluss an die Ermordung Matthias Erzbergers durch republikfeindliche Extremisten trat er am 12. September 1921 aus Protest zurück, da er die Auflösung der Einwohnerwehr nicht verhindern konnte. Er kehrte auf seinen früheren Posten als Regierungspräsident von Oberbayern zurück. In den Jahren 1920 und 1923 ordnete Kahr im Zuge einer reichsweiten antisemitischen Kampagne aufgrund einer Anregung von Rupprecht von Bayern die Massenausweisung sogenannter Ostjuden an.“ (ebd.). Kahr, war einerseits an dieser antisemitischen Kampagne beteiligt, andererseits aber dennoch entschiedener Hitler-Gegner. Während des folgenden Hitler-Ludendorff – Putschversuches widersetzte er sich den Putschisten. Kahr wurde von den Nazis im Juni 1934 ermordet (der sogenannte „Röhm Putsch“ als Vorwand zur Zerschlagung der SA durch Hitlers Gefolgsleute bot Anlass zum Mord an zahlreichen Gegnern.

[25] „Ich habe hier versucht, freimütig die Arbeit und die geringen Erfolge der Waffenstillstandskommission in Spa zu schildern, und ich nehme für uns nur bescheiden in Anspruch, daß wir unter schweren Verhältnissen, sowohl in der[26] Heimat als auch den Gegnern gegenüber, unseren vorgeschobenen Posten in Feindesland nach bester Kraft und Überzeugung verteidigen. Von unserer Seite unterbleibt nichts, die Gegner über die Zustände in Deutschland aufzuklären, über das heutige Fehlen einer ausreichenden Wehrmacht zur schnellen Niederringung aller inneren und äußeren Feinde, über den Hunger, die Blockadefolgen, die Arbeitserschwernisse und den Bolschewismus, den die verblendete Haltung der Entente unmittelbar fördert. Von einer Sinnesänderung im feindlichen Lager ist praktisch noch nichts zu spüren. Überall stößt man nach wie vor, besonders bei den Franzosen, auf Mißtrauen und Rachsucht. Ihr Bestreben, uns noch mehr zu erniedrigen und zu entehren, besteht in unverminderter Stärke fort. Der immer neu verlängerte Zustand des Waffenstillstandes ist nach Marschall Foch aber nichts anderes als der frühere Zustand des Krieges mit uns. Trotzdem zieht er immer mehr Dinge in die Waffenstillstandsverhandlungen hinein, die zweifellos schon zu den Präliminar-Friedensfragen gehören und der Friedenskonferenz vorgreifen. Schon von diesem Gesichtspunkte aus erscheint es heute mehr denn je erforderlich, eingehend zu prüfen, wie man sich zu einem neuen Waffenstillstande mit neuen erniedrigenden Bedingungen stellen soll. Denn auch die Truppen der Entente drängen in bedenklicher Weise nach Hause. Auch in den Ententeländern finden die bolschewistischen Lehren immer mehr Eingang. Damit muß dann aber auch bei unseren Feinden die Erkenntnis kommen, daß ein weiteres Anspannen des eigentlich schon überspannten Bogens nicht nur den völligen Untergang Deutschlands, sondern auch den Bolschewismus in den Ländern der Entente herbeiführen muß.“ (Frhr. v. Hammerstein, https://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/0000/sch/sch1p/kap1_2/para2_6.html). Zu Hammerstein siehe auch: https://www.gdw-berlin.de/vertiefung/biografien/personenverzeichnis/biografie/view-bio/kurt-freiherr-von-hammerstein-equord/?no_cache=1

[26] Über Friedrich Theodor Fischer: https://www.stuttgart.de/item/show/25338

[27] Siehe dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Auch_Einer

[28] Es zieht sich durchs konservativ-reaktionäre deutsche Gemüt – auch wenn darunter eben auch welche sind/waren, die definitiv keine Nazis sind/waren, als übereinstimmendes Gedankengut und Schnittstelle, wie wir heute sagen, der übliche vereinnahmende Opfermythos. War es die Dolchstoßlegende nach dem 1. Weltkrieg, die Verleugnung, später Relativierung der deutschen Verantwortung, wird mit der behaupteten „Kollektivschuld“ eine „Volksgemeinschaft“ beschworen, die von „den Hitleristen/Nazis“ oder wie auch immer genannt, jedenfalls als „Fremdkörper“, beschworen, mit dem dieses „Volk“ angeblich nichts zu tun hatte.

[29] Diese „richtungsweisende“ Ansicht, die bis ins 21. Jahrhundert von der politischen „Rechten“ aller Schattierungen bemüht wird, war damals schon und ist heute klar und deutlich: unhaltbar! So schreibt der ehemalige Ressortleiter Politik des konservativ-liberalen Senders N-TV Hubertus Volmer: „Dies war der Hintergrund, vor dem die geradezu obsessive Abwehr des angeblichen Kollektivschuldvorwurfs in der Nachkriegszeit betrieben wurde. Dabei gab es “kein einziges offizielles Dokument …, in dem die Siegermächte eine Kollektivschuld postulierten”, wie der Historiker Norbert Frei schreibt. Was es stattdessen gab, “war ein anhaltendes publizistisches Geraune – und im tagespolitischen Diskurs der ‘Ära Adenauer’ eine Fülle beiläufiger Bemerkungen über die Ungerechtigkeit des Kollektivschuldvorwurfs”. Und weiter: „Kurzum: Die Öffentlichkeit im Nachkriegsdeutschland war mit der Abwehr eines Vorwurfs beschäftigt, den niemand ernsthaft erhoben hatte. Dies hatte Methode: Vielfach war die Zurückweisung der Kollektivschuld gleichzusetzen mit dem Versuch, deutsche Schuld insgesamt zu verneinen. Doch die kollektive Unschuld, die viele Deutsche nach dem Krieg für sich in Anspruch nahmen, gab es ebenso wenig wie die kollektive Schuld.“ (https://www.n-tv.de/politik/Die-Maer-von-der-kollektiven-Schuld-article10014216.html). Auch der Publizist und Politologe Alfred Grosser (im Februar 2020 war sein 95.igster) äußerte sich zur Kollektivschuld eindeutig. „…und am nächsten Tag war ich sicher, endgültig sicher, dass es keine Kollektivschuld gibt …“ (https://www.deutschlandfunk.de/es-gibt-keine-kollektivschuld.1295.de.html?dram:article_id=193343).

[30] Die „Kollektivschuld“, war, neben der Nachkriegsdebatte und deren Motive, in den Jahren 42-45 Teil der NS-Ideologie. Das lässt sich, wenn auch verschwurbelt auch aus dem Text von CF herauslesen. „Wehe den Besiegten“, verharmlost einerseits die bereits damals bekannten Verbrechen des NS, und unabhängig von der Frage einer „Kollektivschuld“, weist dies darauf hin, dass die „Besiegten“ weit über die NS-Verbrecher hinaus, also „das Volk“ Rache zu fürchten hat. Es war das ausgesprochene NS-Propaganda-Ziel des NS, „das deutsche Volk“ zum Mittäter an all seinen Verbrechen zu machen, aber auch wenn „das deutsche Volk“, speziell seine Eliten in besonderem Maße, in überwältigender Mehrheit wenigstens mit gemacht hat, und wenn als schweigende Profiteure zunächst, so hat sich die zivilisierte Welt doch als solche bewiesen: Hätten die alliierten auch nur Ansatzweise eine derart kriminelle Energie an Tag gelegt, wie die Nazis und ihr Gefolge, gäbe es heute gewiss kein „deutsches Volk“ mehr. Das Rätsel, weshalb selbst NS-Gegner*innen im Nachkriegsdeutschland vom Rechtsliberalismus befallen wurden, ist m.W.
noch nicht umfänglich gelöst (siehe dazu auch): https://www.lissnerweb.de/2019/11/autsch/).

[31] Natürlich besteht die Schuld nicht nur darin, „dem“ Rattenfänger und Verbrecher ins Garn gegangen zu sein. Mit dem Finger auf „den Einen“ zu zeigen, war über lange Zeit Teil der Verdrängungsstrategie. Dazu Hermann Langbein: „Die Öffentlichkeit hat sich lange dagegen gesperrt, Auschwitz zur Kenntnis zu nehmen. Daran konnten auch diejenigen Überlebenden nichts ändern, die immer wieder auf all das hinwiesen, was dort geschehen war. Sie blieben als Warner die Außenseiter der Gesell­schaft, zu denen sie ihr Erlebnis von Auschwitz gemacht hatte. Es bedurfte des Heranwachsens einer Generation, die sich dagegen zu wehren begann, daß ihre Väter ihr stillschweigend ein so drückend schweres Erbe aufbürden wollten, damit ein Wandel eintrat. Der Eichmann-Prozeß in Jerusalem und der große Frankfurter Auschwitz-Prozeß gaben den Anstoß dazu, daß sich die Öffentlichkeit nicht weiter sträubte, die Wahrheit über Auschwitz zur Kenntnis zu nehmen. Eine nüchtern-sachliche Stellungnahme zu dem Phänomen Auschwitz ist jedoch zu Lebzeiten derer kaum möglich, die dort dazu gebracht wurden, alle natürlichen Hemmungen auszuschalten, ihr Gewissen abzutöten, jahrelang Massenmord mit dem Gleichmut von Ungeziefervertilgern zu betreiben und sich höchstens darüber zu be­klagen, welch unangenehme Arbeit sie im Dienst der Allgemeinheit verrichten müssen. Da jedoch dieses Phänomen zur Stellungnahme herausfordert, bezog man seine Position in der Regel als Partei. Die einen bemühten sich, die Geschehnisse zu verkleinern – typisch dafür ist die beschämende Diskussion darüber, ob nicht die Zahl der Opfer von Auschwitz überhöht werde; als ob sich am Charakter der Verbrechen etwas ändern würde, wenn eine Million weniger in die Gaskammern geschleppt worden wäre. Diese Partei suchte auch mit Eifer Parallelen mit Massenverbrechen anderer Völker, um zu kaschieren, daß das Phänomen Auschwitz keinen Vergleich zu läßt. Gegen derlei Bemühungen wehrte sich eine andere Partei, die Schuldbekenntnisse und Anklagen formulierte, häufig allerdings mit einem Vokabular, das seltsam abstrakt blieb und dessen Aussage­kraft daher gering war. Der Ansatz zu einer nüchternen Analyse der menschlichen Reaktionen in der extremen Situation von Auschwitz fehlt bisher, obwohl kein Geschehnis der jüngsten Vergangenheit mehr dazu herausfordert, analysiert zu werden. Dazu bedarf es einer Generation, die Auschwitz etwa aus der Distanz betrachten kann, von der wir auf Geschehnisse des 19. Jahrhunderts blicken. Ihr soll die vorliegende Studie die Arbeit erleichtern. Wenn sie darüber hinaus auch die Generation, die über ihre Väter eine per­sönliche Beziehung zum Nationalsozialismus hat, zu Schlußfolge­rungen anregen kann — umso besser. (Langbein, 1972, S. 575). Über Hermann Lagbein: https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Langbein und http://www.auschwitz-prozess-frankfurt.de/index.php?id=56

 

[32] Hier finden wir die „Blaupause“ für alle Holocaust-Verharmloser und Leugner. Es ist den Worten, „Schade, dass die heutigen Weltbeherrscher nicht schon früher auf ihre brillante Kriegsverbrechertheorie verfallen sind!“ (CF) nicht zu widersprechen. Aber in dem Kontext ist das eine Grenzwertige und relativierende Polemik. Das Skript ist ja bis Anfang der 60iger Jahre bearbeitet worden. Die Verbrechen in den Mordlagern waren nicht nur bekannt, sondern in einer verspäteten, aber immerhin doch, juristischen und an Fakten gemessenen Aufarbeitung. Einem politischen Journalisten kann das nicht entgangen sein. Außerdem war das gerade Gegenteil der Fall. Die deutsche Gesellschaft übte sich fleißig in Leugnen, wo das nicht mehr ging, relativieren und betätigte sich umfassend in Fluchthilfe für Naziverbrecher.

[33] Nun, dass „wir“ da überhaupt mir reden durften … Diese Generation hat es verstanden, sich ein weiteres mal als „Opfer“ zu stilisieren. CF schafft das geistige Debakel „dieses Volkes“ in einem Satz auf den Punkt zu bringen. Es kommt CF, stellvertretend für diese Generation Konservativ-Völkischer, die nicht unbedingt Nazis gewesen sind, an keinem Punkt in den Sinn, dass es, wenn auch wenig spektakulären, so doch, deutschen Widerstand, aber vor allem einen weltweiten Widerstand und Krieg gegen den NS gegeben hat. Stattdessen fraternisierendes „Mitleiden“ – ja mit wem denn eigentlich?

[34] Enttäuschung über das Scheitern imperialer Großmachtpolitik, die erkennbar befürwortet wird (statt Bescheidenheit ist ein Zier, leider nicht genug – „Wilhelm war ein Weichei“ …).

[35] „Die Deutschen liebten die Ordnung mehr als die Gerechtig­keit, sagte der alte Goethe. Auschwitz ist ein grausiger Triumph der Ordnung, die durch Vernichtung gewährleistet wird, und bleibt für uns Deutsche daher ein ständiges Menetekel, ein An­sporn zum Nachdenken über den Täter in uns. Nicht mehr aktu­ell, bloße Geschichte? Ende Juni 1992, wenige Wochen vor den Pogromnächten von Rostock, ermittelte die Dresdener Polizei per Fangschaltung einen anonymen Anrufer, der am Telefon ge­droht hatte, er werde sich mit einer Kalaschnikow bewaffnen und „ein Blutbad“ unter Ausländern anrichten. Dieser Telefon­terrorist stellte sich als kein Geringerer als der Dresdener Stadt­kämmerer Günter Rühlemann, CDU, heraus. Rühlemann blieb zunächst sogar in Amt und Würden – der Hauptausschuss des Stadtrates lehnte seine Entlassung ab. In einem Interview mit den „Dresdner Neuesten Nachrichten“ bedauerte Rühlemann zwar seine ‚Entgleisung‘, prangerte aber als Hauptschuldigen den „unkontrollierten Zustrom“ von Ausländern an und rechtfertig­te sich mit den Worten: „Der deutsche Mensch will Ordnung. Erst nach dem dreifachen Mord, den Neonazis in Mölln an tür­kischen Frauen verübten, galt Rühlemann plötzlich als untragbar und wurde alsdann, nachdem er auch zu einem Gerichtstermin nicht erschienen war, Anfang Dezember 1992 entlassen.“ (Bastian, 1994, 2.Auflage, S. 88). Da ist sie wieder – die „volksverderbende Philosophie“.

 

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