Betrifft: Hassreden – Brief an die Oberstaatsanwaltschaft Berlin

Reaktion?
Vorladung zur Zeugenbefragung
Einstellung des Verfahrens gegen Unbekannt, da Täter nicht zu ermitteln seien und ich nicht sachdienlich beitragen könne

Herr Oberstaatsanwalt,
es ist genug des Gejammers über Nazi-Umtriebe in Deutschland.
Am 3.10. fand in Berlin eine Nazi Demonstration mit ca. 3.000 Teilnehmer*innen statt, die offensichtlich durchsetzt war von Hassreden, Antisemitismus und Nazi-Verherrlichung, sowie aufrufen zu Gewalt.
Die Polizei stand offensichtlich daneben und ließ den Zug zu und gewähren statt ihn unverzüglich aufzulösen und die angemessenen Verhaftungen gegen diese Hassredner*innen vor zu nehmen.

Dieser Vorgang muss strafrechtliche und vor allem auch dienstrechtliche Konsequenzen haben.

Es kann nicht angehen, dass durch diese Figuren a) meine halbe Familie nebst Freundeskreis ungesühnt verbal-physisch bedroht wird.
b) Es kann nicht angehen, dass die, die zum Schutz von uns Bürger*innen und Bürgern, zum Schutz von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat bestimmt sind, sich quasi schützend vor diesen Leuten stellen, statt ihren Job zu machen.
MfG
Simon Lissner

P.S.: anbei das Video: ….

Antwort, weil passend zum Thema Nazis und Berliner Staatsanwaltschaft:

276 Js 2415/18

Sehr geehrter ,

auf Ihre bei der Staatsanwaltschaft Limburg erstattete Strafanzeige

gegen Alice Weidel u.a.

wegen Öffentlicher Aufforderung zu Straftaten pp.

teile ich Ihnen zuständigkeitshalber folgendes mit:

Unter einer Aufforderung im Sinne des § 111 des Strafgesetzbuches (StGB) ist nach gesicherter Rechtsprechung und Literatur jede Kundgebung zu verstehen, die den Willen des Täters zu er­kennen gibt, von dem Aufgeforderten ein bestimmt bezeichnetes kriminelles Tun oder Unterlas­sen zu verlangen (so schon RGSt 4, 106, 108).

Die bloße Kennzeichnung der Art der Tat ohne Hinweise auf Zeit und Ort und beteiligten Perso­nen reicht i.d.R. nicht aus.

Die Veröffentlichung steht im Kontext eines rechtswidrigen Messerangriffs auf eine Person. Hier wird durch verschiedene Kommentatoren im Kern die These vertrete, eine Bewaffnung biete Schutz vor rechtswidrigen Angriffen. Dabei werden erkennbar nur gerechtfertigte Einsätze pro­pagiert, was bereits das Tatbestandsmerkmal des Aufforderns zu einer Straftat entfallen ließe.

Weiter sind die Einzelheiten des Einsatzes der Waffen zur Selbstverteidigung vom Einzelfall ab­hängig und schon deshalb nicht, wie für die Verwirklichung des Tatbestandes erforderliche, konkretisierbar.

Weiter fordert die Formulierung der Aufforderung mehr als bloße Information (vgl. LG Bremen, StV 1986, 439, 441) und auch mehr als lediglich politische Unmutsäußerungen oder Provoka­tion. Hier werden Anregungen gegeben, sich zu wehren. Die Entscheidung und Abwägung wird dabei gerade auf den Leser verlagert.

Schon das RG (RGSt 47, 411, 413; 63, 170, 173) hat bloßes Anreizen im Sinne berechnender Stimmungsmache für Straftaten nicht ausreichen lassen. Auch das bloße Gutheißen und Befür­worten von Straftaten stellt nach gefestigter Rechtsprechung kein Auffordern im Sinne des Ge­setzes dar.

Erforderlich ist vielmehr eine über eine bloße Befürwortung hinausgehende bewusst-finale Ein­wirkung auf andere mit dem Ziel, in ihnen den Entschluss zu bestimmten hinreichend konkreten strafbaren Handlungen hervorzurufen (vgl. BGHSt 32, 310, 311; 31, 16, 22; 28, 312, 314). Hier liegen Information und Stellungnahme zu einem weltweit politisch brisanten Thema im Vorder­grund.

Außerhalb des Tatbestands liegen schließlich auch bloße Meinungsäußerungen, auch wenn diese im Einzelfall bei den Adressaten auch deliktische Pläne auslösen (vgl. NK-Paeffgen, StGB, § 111 Rn 12).

Anders als bei bloßen Meinungsäußerungen muss bei einer Aufforderung gerade die Erwünschtheit des angesonnenen kriminellen Geschehens deutlich werden, so dass auch von ei­nem Appellcharakter als konstituierendem Kriterium einer Aufforderung gesprochen werden kann (vgl. BayObLG, NJW 1994, 396; OLG Karlsruhe, NStZ 1993, 389, 390; OLG Köln, NJW 1988, 1102, u. MDR 1983, 338).

Vor diesem Hintergrund werden zu tatbestandsmäßiger »Aufforderung« zwangsläufig nur sol­che Bekundungen, die auch den Eindruck der Ernstlichkeit erwecken; ein solcher Eindruck ist nur zu bejahen, wenn der Auffordernde nach dem Gesamtzusammenhang seiner Erklärung zu­mindest damit rechnet, seine Äußerung werde vom Leser oder Zuhörer gerade als zweckge­richtete Aufforderung zur Begehung bestimmter Straftaten verstanden (vgl. BGHSt 32, 310).

In Fällen der vorliegenden Art kann der Appellcharakter und damit eine tatbestandsrelevante »Aufforderung« nicht allein schon im Hinblick darauf bejaht werden, dass in den Äußerungen der Einsatz von Waffen befürwortet wird. Das BVerfG hat in langjährig gefestigter Rechtspre­chung (grundlegend: BVeriGE 7, 198, 210 ff.) immer wieder nachdrücklich betont, dass bei der Auslegung von Meinungsäußerungen, die in einer die Öffentlichkeit besonders berührenden Frage eine Einflussnahme auf den Prozess allgemeiner Meinungsbildung zum Ziel haben und damit dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. GG unterfallen, der Inhalt der Erklärung unter Heran­ziehung des gesamten Kontextes, in dem sie steht, und nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen, sozialen und politischen Geschehens, in dem sie gefallen sind, zu ermit­teln ist (vgl. BVerfGE 93, 266, 297). Demzufolge darf eine am Grundrecht der freien Meinungs­äußerung (Art. 5 Abs. 1 GG) orientierte Auslegung von Straftatbeständen nicht sklavisch am Wortlaut einer Äußerung festhalten, sondern hat den gewollten spezifischen Erklärungsinhalt zu ergründen und dabei auch den Kontext der gesamten Erklärung mit zu bedenken.

  • Für die Ermittlung des Aussageinhalts von Aufrufen ist daher darauf abzustellen, wie die Erklä­rung von einem unvoreingenommenen Durchschnittsleser verstanden wird (vgl. BGH, NJW 2000, 3421). Dabei ist die isolierte Betrachtung umstrittener Äußerungsteile (vorliegend etwa die Forderung der Bewaffnung zur Selbstverteidigung) nicht zulässig.

Mit zu berücksichtigen ist der gesamte Kontext samt allen erkennbaren sonstigen Umständen. Für die insoweit gebotene Abwägung kommt es auf die Schwere der Beeinträchtigung der be­troffenen Rechtsgüter an, wobei es ,anders als bei reinen Tatsachenbehauptungen, grundsätz­lich keine Rolle spielt, ob die pointiert vorgetragene Meinung im Einzelfall »richtig« ist oder nicht. Da es Sinn jeder zur Meinungsbildung beitragenden öffentlichen Äußerung ist, Aufmerk­samkeit zu erregen, sind angesichts der heutigen Reizüberflutung aller Art einprägsame, teil­weise auch überpointierte Formulierungen hinzunehmen (vgl. BVerfGE 82, 236, 267; 24, 278, 286).

Dies gilt insbesondere, wenn der Äußernde damit seinen Beitrag dem geistigen Meinungs­kampf in einer die Öffentlichkeit besonders berührenden Frage dient (vgl. BGH, NJW 2000, 3421, 3422).

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben des BVerfG und — ihm folgend — des BGH erscheint die hier in Rede stehenden Aufrufe zur Bewaffnung lediglich als kritische Meinungsäußerung in einer politisch hoch brisanten und für das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung bedeutungsvollen Frage.

Auch bezüglich weiterer Straftaten liegen keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte vor. Daher habe ich das Ermittlungsverfahren gem. § 170 abs. 2 der Strafprozessordnung eingestellt.

Mit freundlichen Grüßen

F-O
Staatsanwältin

Beglaubigt

JN, Justizbeschäftigte