Brief an den Fraktionsvorsitzenden der GRÜNEN, Hessen (beantwortet)

Status: beantwortet 1.8.2019, telefonisch (s.unter diesem Schreiben)
Juli 2019,

Lieber Matthias,

nach langer Zeit möchte ich mich doch einmal wieder an dich mit ein paar Fragen wenden. Du wirst verstehen, dass ich ggf. Antworten nicht für mich behalten werde, wie ich auch die Fragen über die mir wenigen zugänglichen Wege veröffentlichen werde. Politik ist ja nu‘ ein öffentliches „Gschäft“.

Es geht um die skandalöse Verschlusssache NSU- (und andere Nazi – Akten).

Du wirst mit den Worten zitiert, es käme immer wieder zu Missverständnissen hinsichtlich der Aufarbeitung über die Missstände im Hessischen Landesamtes des Verfassungsschutz während der NSU Aufklärung. So enthielten die Akten auch personenbezogene Daten von Informanten. Weiter und in Sachen Stefan Ernst mochtest du dem Bericht nach „nicht spekulieren“ und der VS sei, wenn ich den Artikel richtig verstehe, nicht richtig gegen Rechts aufgestellt gewesen, was die Umstrukturierungen richtig und notwendig machte.

Kannst du mir bitte erklären, weshalb es deiner Meinung nach nicht möglich sein soll, einerseits die vermutlich wenigen personenbezogenen Daten und Interessen von echten Informanten zu schützen, sie ggf. dem höheren Aufklärungsinteresse halber diese aus der Szene zurück zu ziehen.

Nun wurde bereits auf Druck der Öffentlichkeit die Verschlusssache von 120 auf 30 Jahre reduziert. Findest du, dass dieser Zeitraum angemessen ist angesichts der schwere der jüngsten Tat und Bedrohungen, wie sie z.B. am heutigen Montag in der SZ S. 5 berichtet werden? Hinweis: Danach geht es um eine Nazi Truppe Nordkreuz, die den Mord an 25.000 als „Links“ apostrophierte Personen in Deutschland für den Fall des „Staatszerfalles“ geplant hat.

Ist es nicht eher so, dass diese Form der Geheimniskrämerei Anlass zu schlimmsten Befürchtungen geben muss, zumal nahezu im Monatsrythmus von „Nazinestern“ in den Sicherheitsbehörden berichtet wird?

Angesichts eines „erfolgreichen“ Mordes am demokratischen Politiker Lübcke bitte ich dich, einmal die „erfolgreiche Umstrukturierung“ des VS zu erläutern.

Euer Koalitionspartner und mittlerweile ja auch persönlicher Freund, Boufier, hat sich anlässlich eines Beitrages von Deniz Yücel erregt, in dem dieser den „Verfassungsschutz als die wohl gefährlichste Behörde des Landes“ bezeichnete (komplettes agieren dieses „Dienstes“ in Sachen NSU). Ohne das näher zu begründen, hat B. diese Vorwürfe scharf als „falsch“ zurück gewiesen. Was ist deine Meinung? Hat dieser Koalitionsfreund in dieser Frage recht?

Ist dir bewusst, das gerade auch die unter Verschlussnahme von Nazi-Akten in Deutschland eine lange Tradition hat? Selbst der Nazi-Massenmörder Adolf Eichmann und zahlreiche seiner Mordkumpane wurden und werden durch diese Arte der Geheimhaltung geschützt, und zwar bis heute und posthum.

Eine Bemerkung zu Eichmann sei mit erlaubt: Diese Kreatur bedauerte, dass er nicht alle ca. 10,5 Mio Juden hinmorden lassen konnte, sondern „nur“ 6 Mio. Nichtsdestotrotz konnte er ein unbehelligtes Leben, meiner persönlichen Meinung nach, offensichtlich gedeckt durch Behörden und insbesondere die Vertreter der Botschaft Argentiniens führen, bis zu seiner Entführung durch den israelischen Geheimdienst und nach einem ordentlichen Prozess, zu seinem verdienten Ende am Strang.

Wie das alles ging, dazu eine unverzichtbare Leseempfehlung zum besseren Verständnis dieser Behörden etc.: Bettina Stangneth, Eichmann vor Jerusalem, Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, 2014, rororo, 978 3 499 622694. Da kannst du nachlesen, wie sowas ging und bis heute geht. Dass diese Gestalten, ermutigt durch die jüngere Entwicklung und erstmals seit Jahrzehnten, applaudiert durch einen braun-bürgerlichen Wahlverein aus allen Löchern kriechen, wundert mich jedenfalls nicht. Ich bin aber durchaus überrascht, wie unbeholfen viele der Politprofis im demokratischen Lager darauf reagieren.

Zum Begriff des Massenmörders für dieses Subjekt Eichmann, der ja nun die No. 1 der Judenmörder war… Angesichts der Dimension scheint mir dieser noch fast verharmlosend …

Es grüßt dich
Simon

Antwort Mathias Wagner, Fraktionsvorsitzender der GRÜNEN, Hessen
1.8.2019, Telefonat

Nach einem längeren und freundlichen Telefonat ergibt sich für mich folgendes:

Die Frage der Verschlusssache bezieht sich nach Wagner vermutlich zwar auf mehr als eine Akte im NSU Fall, aber die, um die es in der Öffentlichkeit geht, das sei eine Akte. Deren Inhalt sei nicht unmittelbar mit dem Fall und der Untersuchung in Verbindung stehend, sondern beinhalte einen seinerzeit noch vom damaligen Innenminister Boris Rhein angeforderten Bericht zur Arbeit des Verfassungsschutz Hessen in dieser Sache und sollte ggf. der Aufdeckung von Fehlern und Versäumnissen dienen.

Diese Akte sei zunächst für 120 Jahre unter Verschluss genommen worden, aber nach einer Neueinstufung sei dieser Zeitraum auf 30 Jahre reduziert worden. Diese Akte sei den Abgeordneten im Untersuchungsausschuss ohne Einschränkungen zur Verfügung gestanden, ebenso wie sie den Ermittlungsbehörden zur Verfügung stand und steht. Dass diese Akte nicht der Öffentlichkeit vorliege, diene nicht etwa dem Täterschutz, sondern eben vor allem dem Schutz aller anderen. Es sei sicher unbefriedigend, aber eben doch komplexer, ein brauchbares Verfahren in solchen Fällen zu wählen. Selbstverständlich lädt sowohl der Verschluss, der ja ein eher übliches Verfahren sei, als auch geschwärzte Ausgaben solcher Akten zu Spekulationen ein.

Ich denke, der Zusatz, Abgeordnete aller im Landtag vertretenen Fraktionen, die mit der Sache befasst waren, konnten den Inhalt dieser (und anderer Akten?) einsehen, und haben deren Inhalt nicht skandalisiert, erlaubt durchaus eine andere Sicht auf die Forderung nach Veröffentlichung und die Petition. Das wirft die Frage auf, wie zwingend ist die Veröffentlichung und was kann sie bringen, bzw. nicht bringen? Die Abgeordneten der Parteien, die sie kennen, sollten dazu Antworten geben. Das könnte der Glaubwürdigkeit des Verfahrens „Verschlusssache“ dienen.

Die Umstrukturierung des hessischen Verfassungsschutzes sei sehr komplex und auch nicht abgeschlossen. Anlass zur Kritik gab und gibt es. Jedoch seine gänzliche Abschaffung zu fordern, wie es die GRÜNEN noch vor etwa 15 Jahren taten, die LINKE es weiterhin fordert, sei natürlich problematisch. Wären dann die Erkenntnisse über das rechtsextreme Lager nicht noch dürftiger? Auch wenn es in der öffentlichen Wahrnehmung nicht so ankäme, würde insbesondere die Behördenspitze, sowohl bei Polizei als auch beim Verfassungsschutz das schon sehr ernst nehmen, welche Entwicklungen sich da im Rechten Lager zeigten. Die Signale in die Behörden, dass etwa Rechtsradikale Vorfälle wie im Frankfurter Polizeirevier und auch andernorts keinerlei Billigung oder gar Toleranz finden werden, seien da eindeutig.

Ich persönlich glaube (heißt: nicht wissen) zwar, dass diese Behörde Verfassungsschutz, aber auch der BND, nicht reformierbar ist. Dennoch ist jedoch auch nachvollziehbar, dass unsere Verfassung, womit inhaltlich gemeint ist, Freiheit, Demokratie, Recht und so weiter, geschützt werden muss, soweit es um verbal-physische Gewaltpläne und -taten geht, bis hin zu Plänen und Taten, diese ganz zu Gunsten von Tyrannei und Diktatur abzuschaffen. Die Mittel, die zum Schutz zu wählen sind, sollten stets in der öffentlichen Diskussion und unter parlamentarischer Kontrolle stehen. Ich hoffe, nach der Sommerpause wird diese öffentliche Diskussion Fahrt aufnehmen.

Ich bedanke mich bei Mathias für das freundliche Gespräch.

SL

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