Jahrhundertwende – ins 20. Jahrhundert

In diesem Kapitel schildert der Autor einige Erlebnisse, Beobachtungen und Erfahrungen in der Zeit um die Jahrhundertwende vom 19. ins 20. Jahrhundert. Der Kirchenstreit, die Auseinandersetzung mit dem “politischen Katholizismus”, verkörpert in der Zentrumspartei, spielte eine große Rolle.

Im Original beginnt der Abschnitt mit der Überschrift (BD-I-095-139)
“Wie ich unter und mit Karl Stolz Politik machte”

Als politischer Redakteur, wenn auch als Anfänger, war ich buchstäblich nach Augsburg engagiert worden. Mein Chef und Lehrmeister Karl Stolz ging indes sehr vorsichtig in meiner Beschäftigung mit Politik zu Werke. Ich selbst stürzte mich, nun in greifbarer Nähe vor mir sah, was ich angestrebt hatte, mit Leidenschaft und Überzeugung auf diese politische Tätigkeit. Nicht etwa aber aus einer Partei-Überzeugung, sondern immer nur in dem heißen Bemühen, meinem engeren und weiteren Vaterlande und meinem deutschen Volke zu dienen. Persönlicher Ehrgeiz kam dabei schon deshalb nicht in Frage, weil ich bis zum Jahre 1914, also siebzehn Jahre lang, für die weitere Öffentlichkeit so gut wie überhaupt nicht in die Erscheinung trat. Denn in der Augsburger Abendzeitung zeichnete der Chefredakteur Karl Stolz[1], so lange er seine Stellung inne hatte, allein für den ganzen Inhalt des Blattes verantwortlich, was der einzelne Redakteur schrieb und bearbeitete wurde nur wenig und wenigen bekannt.

Karl Stolz war aber schon sehr bald, nachdem ich in seine Redaktion eingetreten war, in das Augsburger Gemeindekollegium gewählt worden und legte sich in dieser ehrenamtlichen Tätigkeit mächtig ins Zeug. Das brachte ihm nach einiger Zeit die hohe Ehre ein, zum Vorsitzenden dieses Kollegiums gewählt zu werden, der, wenn er der Kerl dazu war, im Stadtregiment eine bedeutende Rolle spielen konnte. Stolz war der Kerl dazu, spielte die Rolle und nicht zu knapp. Er war bald hinter den Kulissen der eigentliche Oberbürgermeister der Stadt, dem der wirkliche, ein braver und in seiner Art auch tüchtiger, aber weicher Mann, die Energie und geistige Überlegenheit des anderen anerkennend und schätzend, aus freiem Willen und gerne sich beugte. Es geschah nichts von Belang in der Stadt ohne oder gar gegen den Willen von Karl Stolz. Wenn Derartiges zu entscheiden war, dann suchte der Oberbürgermeister Stolz auf seinem Redaktionsbüro in der Zeuggasse auf, und hier wurde dann, was zu geschehen hatte, ausgekocht.

Für mich hatte diese Inanspruchnahme Stolzens durch die Stadt eine starke Mehrung meiner Arbeitslast zur Folge, die nicht immer leicht zu tragen war, gleichzeitig aber auch eine nicht zu unterschätzende Festigung meiner Stellung in der Redaktion und daneben, was für mich bei meiner zahlreicher werdenden Familie wesentlich war, auch eine entsprechende finanzielle Verbesserung. Dank meiner guten Kenntnis der bayerischen Verhältnisse, die ich von meinen beiden norddeutschen Kollegen voraus hatte, wuchs ich ganz von selbst in die Stellung des ersten und engeren Mitarbeiters des Chefredakteurs hinein. Die Augsburger Abendzeitung war zu jener Zeit ein wirklich unabhängiges, keiner Partei und keinen sonstigen irgendwie gearteten Einflüssen verpflichtetes Organ, das lediglich die Politik zu machen hatte, die sein Verleger bestimmte. Da aber ein eigentlicher, selbst bestimmender Verleger nicht vorhanden war – Inhaber des Zeitungsverlages waren drei Schwestern, von denen zwei an Offiziere verheiratet waren, während die dritte, schon ältere und unverheiratete den Verlag formell und nach Außen hin repräsentierte – lag die Geschäftsleitung in den Händen des Chefredakteurs. So war es auch dieser allein, der die Politik des Blattes bestimmte. Ihre Linie war klar und einfach: vor allem national deutsch und gut bayerisch. Keine politische Partei hatte in die Haltung des Blattes auch nur das Geringste dreinzureden. Unsere innenpolitische Linie war die eines gemäßigten Liberalismus mit einer gewissen Anlehnung an den Nationalliberalismus, aber ohne die leiseste Bildung. Es war durchaus nichts Seltenes, daß wir auch am Nationalliberalismus Kritik übten, wenn uns seine Politik einmal nicht richtig zu sein schien.

Das erste mir zugewiesene politische Betätigungsfeld war indes nicht das der Innen-, sondern das der Außenpolitik. Mein Lehrmeister Karl Stolz hielt das offenbar so für zweckmäßiger. Wahrscheinlich wollte er erst einmal meinen politischen Instinkt im Allgemeinen feststellen und erproben, und für diesen Zweck dünkte ihm der außenpolitische Boden weniger gefährlich (in der möglichen Wirkung auf die Zeitung nämlich) als der innenpolitische. Nach den Auffassungen der damaligen Zeit in Deutschland und auch anderswo über Behandlung der Außenpolitik durch die Presse mag Stolzens Verfahren auch richtig gewesen sein, gleichwohl bin ich aber der Ansicht, dass es falsch war. Der Fehler lag freilich, mindestens in Deutschland, weniger bei der Presse als bei der Regierung und Parlament. Die kümmerten sich nämlich blutwenig um die Behandlung auch der wichtigsten außenpolitischen Dinge durch die Presse und ließen diese auf dem Gebiet meist tun, was sie lustig war. In England und Frankreich, von Russland nicht zu reden, war es anders. Da hatte man in wichtigen außenpolitischen Angelegenheiten die Presse in der Hand. Bei uns glaubte man genug getan zu haben, wenn man ab und zu in der einen oder anderen offiziellen oder offi-ziösen Zeitung die Anschauungen der Regierung über irgendeine gerade aktuelle außenpolitische Frage kundgegeben hatte. Die übrige, nicht offizielle oder offiziöse Presse, die fast ausschließlich die deutsche Öffentlichkeit beherrschte, ging mit solchen Regierungskundgebungen ganz nach Belieben um, stimmte zu, lehnte ab und kritisierte nicht selten in einer bis an die Grenzen des Landesverrates gehenden Weise je nach dem, wie es ihr gerade in den Kram passte oder die Parteien, die Einfluss auf die Zeitungen hatten, es aus Gründen, die mit der Außenpolitik nicht das geringste zu schaffen hatten, für sich als gut und nützlich befanden bzw. die Regierung ärgern und ihr Unannehmlichkeiten und Schwierigkeiten bereiten wollten. Die Presse konnte hierin allerdings für sich geltend machen, dass in der Periode von 1888 bis 1914 die Regierung oder vielleicht sagt man richtiger der regierende Kaiser, mit ihm aber auch die mindestens formell die Verantwortung tragende Regierung in einer das Volk geradezu aufreizenden Weise von Fehler zu Fehler stolperten, und weiter, dass die Regierung niemals auch nur einen ernsthaften Versuch unternahm, der Presse im Allgemeinen und damit auch der Öffentlichkeit klar zu machen, dass die Politik eines Landes und seine Auslandspolitik im Besonderen kein Spielball der Parteileidenschaften oder gar privater Interessen sein kann und darf, freilich auch kein Objekt kaiserlicher Laune oder Unfähigkeit, der Liebedienerei seiner Umgebung oder der Schwäche und persönlicher Ambitionen verantwortlicher Minister, hoher Beamter und Militärs. In dem Kapitel über die Beeinflussung der Presse wird zu dem Gegenstand noch Einiges zu sagen sein. Von diesen Dingen erfährt man ja in der Regel auch nur als Chefredakteur. Als einfacher Redakteur hat man nach dessen Anweisungen sich zu richten, und die Hintergründe bleiben einem meist verborgen. Immerhin kann ich sagen, dass ich auch als solcher schon durch aufmerksame Beobachtung aller Vorgänge und dadurch, dass ich selbst lebhaften Anteil an der Politik nahm, ohne mich persönlich zu engagieren, manchen Einblick bekam.

Der spanisch-amerikanische und namentlich der Burenkrieg boten für die Anfangsjahre reichlich Gelegenheit zur Betätigung. „Zur Psychologie des Burenkrieges“ habe ich auch einmal im „Sammler“, der beliebten Beilage der Augsburger Abendzeitung (Nr. 153 ff vom Jahre 1902) einen längeren Aufsatz unter meinem Namen geschrieben und zwar angeregt durch das damals eben erschienene Buch des berühmten Burenführers De Wet. In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts verlagerte sich der Schwerpunkt meiner politischen Tätigkeit in der Zeitung mehr und mehr auf die innerdeutschen und vor allem die bayerischen Angelegenheiten. Es war die Zeit, in der das Zentrum, dieses aus einer üblen Mischung von Konfession und Politik erwachsene Parteigebilde, immer größeren Einfluss auf den Gang der deutschen und bayerischen Politik gewann, die Zeit, in der diese skrupellose Partei, nur um ihre Macht zu stärken und zu festigen, systematisch die Sozialdemokratie unterstützte und großzog. Und das hieß damals gleichzeitig den Kommunismus und alles mit ihm zusammenhängende großziehen. Denn das ist alles erst aus der Sozialdemokratie hervorgegangen, wenn auch nicht mit dem Willen der wirklichen Sozialdemokraten, aber aufgrund der ganzen Entwicklung, die schließlich auch nicht nur dem Zentrum, sondern der Sozialdemokratie selber gefährlich wurde. Gegen dieses von vaterländischen Gesichtspunkten aus in höchstem Grade verderbliche Treiben des Zentrums bin ich in der Augsburger Abendzeitung in der schärfsten Weise zu Felde gezogen. Ja, ich darf wohl sagen, dass die Augsburger Abendzeitung in Bayern wenigstens, wo das Zentrum ganz besonders üppig gedieh und mitunter geradezu übermütig sich gebärdete, die Führung in diesem Kampfe hatte und deshalb auch von der Zentrumspresse besonders gehasst und bekämpft wurde. Dieser Hass war umso ausgiebiger und nachhaltiger, als meine Kampfesweise den Herrschaften außergewöhnlich unbequem war. Ich habe immer das stärkste Gewicht darauf gelegt, den Kampf nicht nur sporadisch, sondern kontinuierlich zu führen, die Kette nie abreißen zu lassen, jede, auch die kleinste Handhabe zu benutzen, um dem Gegner wirksam beizukommen und ihn mürbe zu machen. Im Gegensatz zu vielen protestantischen Kollegen zumal in Norddeutschland, die oft genug eine beschämende Unkenntnis in catholicis[2] bekundeten, kam mir dabei meine noch aus der Freisinger Zeit stammende Vertrautheit mit diesen Dingen zustatten. Die Zentrumspresse empfand das besondere unangenehm, weil man von der Seite nicht an mich herankonnte, während man andere hierin weniger beschlagene Gegner, wenn sie sich Blößen gaben, dadurch abtat, dass man sie der Lächerlichkeit preisgab. Über ein Dutzend Jahre bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges habe ich unentwegt diese Fehden durchgefochten, überzeugt, damit eine Pflicht gegen Staat und Volk zu erfüllen. Das Zentrum hat dadurch seine Politik in dem Vierteljahrhundert vor dem ersten Weltkrieg, durch die rücksichtslose Ausnutzung seiner Macht für die eigene Partei und für konfessionelle Zwecke und durch seine so liebevoll gespielte Rolle als Nährmutter der Sozialdemokratie schwer gesündigt und damit viel Unheil, das später über Deutschland gekommen ist, zu einem nicht geringem Teil mitverschuldet.

Der Siebenbrunner Schulstreit
Ich hatte die Ausschnitte meiner politischen Arbeit aus der Augsburger Abendzeitung bis zum Jahre 1914 fortlaufend in Heften gesammelt. Es war ein ansehnlicher Stoß. Um ein ungefähres Bild dieses meines Arbeitsgebietes zu geben, kann ich hier nur einige besonders charakteristische Episoden herausgreifen. Eine der ersten innenpolitischen Affären, die ich selbständig durchgefochten habe, war der Siebenbrunner Schulstreit. Vor den Toren Augsburgs, in Siebenbrunn-Meringerau bei Haunstetten, bestand um die Wende des Jahrhunderts eine protestantische Konfessionsschule, die aber bis zum Jahre 1900 gastweise auch von den katholischen Kindern des Ortes ohne Beanstandung besucht wurde, die sonst an dieser Schule vorbei nach dem vier Kilometer entfernten Haunstetten zur Schule hätten gehen müssen. Infolge des Konkurses der Weberei Siebenbrunn und Einstellung dieses Betriebes waren um diese Zeit vorübergehend fast keine katholischen Kinder mehr dort vorhanden. Als nach Wieder-inbetriebsetzung der Fabrik die katholischen Arbeiterkinder wieder die protestantische Schule in Siebenbrunn-Merigerau besuchen wollten, wurden nun auf einmal Seitens der Lokalschulinspektion Haunstetten Schwierigkeiten gemacht. Die Fabrikleitung und die Arbeiter setzten alle Hebel in Bewegung, um den alten Zustand wieder zu erreichen, aber vergebens. Da wandten sie sich in ihrer Not an die Redaktion der Augsburger Abendzeitung. Stolz übertrug mir die Sache und gab mir anheim, mich zunächst einmal an Ort und Stelle über die Sachlage zu unterrichten. Das tat ich denn auch noch am selben Tage. Die Dinge hatten sich inzwischen schon so zugespitzt, dass die erbitterten Arbeiter, zum Äußersten ent-schlossen, mittels eingeschriebenen Briefes dem katholischen Pfarramt Haunstetten, dessen Pfarrer gleichzeitig Vorsitzender der Lokalschulinspektion war, den Austritt aus der katholischen Kirche angekündigt hatten für den Fall, dass man sie tatsächlich zwingen wolle, ihre Kinder eine Stunde weit nach Haunstetten in die Schule zu schicken. Das versuchte man auch tatsächlich. Die katholischen Kinder wurden durch den Gemeindediener am Betreten der Schule in Siebenbrunn-Meringerau gehindert und kehrten daraufhin auf Geheiß ihrer Eltern wieder nach Hause zurück. Ein Schulstreik in aller Form war also bereits im Gange.

Diese ganzen unleidlichen Verhältnisse, von denen bis dahin nichts an die Öffentlichkeit gedrungen war, setzte ich andern Tages in einem längeren Artikel in der Augsburger Abendzeitung auseinander. Und nach einigen Tagen brachte ich noch einen zweiten längeren Artikel, der für die Schulwünsche der Siebenbrunner Arbeiter eintrat. Inzwischen hatten schon auf meinen ersten Artikel hin der zuständige Bezirksamtmann Dr. Preger von Augsburg eingegriffen, indem er in Aussicht stellte, dass er einen für die Arbeiter günstigen Entscheid herbeizuführen sich bemühen würde, wenn die Kinder bis dahin nach Haunstetten in die Schule geschickt würden. Das geschah denn auch am nächsten Tage. Allerdings wurden die Kinder erst nach Tagesanbruch – es war im Dezember – zur Schule geschickt, und sie brachten ein von ihren Vätern unterzeichnetes Schreiben an die Lokalschulinspektion Haun-stetten mit der Erklärung, dass sie sich keineswegs gegen die Staatsautorität auflehnen wollten, aber entschlossen seien, für ihre Kinder einen menschenwürdigen Schulzustand am Orte ihres Wohnsitzes zu erlangen und dazu eventuell kein Mittel unversucht lassen würde. Acht Tage nach Veröffentlichung meines ersten Artikels war die Angelegenheit zur allseitigen Zufriedenheit erledigt, und ich hatte die Genugtuung, durch ihre Behandlung in der Augsburger Abendzeitung diese rasche Entscheidung herbeigeführt zu haben. Ich schloss die Sache in meiner Zeitung mit dem folgenden kleinen Artikel ab:

„Mit überaus anerkennenswerter Promptheit ist die leidige Siebenbrunner Angelegenheit in dem neuen Stadium, in das sie durch unsern Artikel in Nr. 333 gebracht wurde, einer vorläufigen Erledigung zugeführt worden und zwar in einem für die beteiligten Arbeiter sehr günstigen Sinne. Dank den Bemühungen des Herrn Bezirksamtmanns Dr. Preger von Augsburg und, wie wir gerne und mit Befriedigung konstatieren und anerkennen, Dank dem nunmehrigen Entgegenkommen des Herrn Pfarrers Spickermann und der ganzen Lokalschulinspektion Haunstetten hat die Sache einstweilen einen provisorischen Abschluss gefunden, der, wie zu hoffen steht, dahin führen wird, dass die erregten Gemüter sich wieder beruhigen und dass so einer weiteren sachdienlichen Entwicklung und der endgiltigen Lösung dieser verworrenen Verhältnisse ein gangbarer Weg geebnet wird. Dem jetzigen Entscheid des kgl. Bezirksamtes Augsburg zufolge hat die kgl. Lokalschulinspektion Haunstetten das Gesuch der in Siebenbrunn wohnenden katholischen Fabrikarbeiter, den gastweisen Besuch der protestantischen Schule in Meringerau durch ihre schulpflichtigen Kinder in provisorischer Weise zu gestatten, unter bestimmten Voraussetzungen zur Genehmigung begutachtet. Die Gemeindeverwaltung und die protestantische Lokalschulinspektion in Meringerau haben sich bereit erklärt, die in Frage kommenden Kinder in die protestantische Konfessionsschule in Meringerau gastweise aufzunehmen. Demgemäss wurden im Einvernehmen mit der katholischen Distriktschulinspektion in Augsburg die werktagsschulpflichtigen Kinder der petitionierenden Arbeiter, sowie – was für die Fabrik Siebenbrunn sehr wesentlich ist, da sie eine Vermehrung ihres Arbeiterpersonals plant – der etwa sonst noch in der nächsten Zeit in Siebenbrunn sich ansiedelnden katholischen Fabrikarbeiter bis zu der in die Wege geleiteten endgiltigen Regelung der Schulverhältnisse der Katholiken von Meringerau vom Besuch der Schule in Haunstetten in jederzeit widerruflicher Weise unter der Bedingung entbunden, dass sie ihre Schulpflicht in der protestantischen Konfessionsschule in Meringerau genügen. Jedoch haben sie den schulordnungsmäßigen Religionsunterricht durch das zuständige kath. Pfarramt Haunstetten und nach dessen Weisung zu empfangen. Das genannte Pfarramt hat sich bereit erklärt, den Religionsunterricht bis auf Weiteres an den Mittwoch-Nachmittagen in der protestantischen Schule zu Meringerau und an den Samstag-Nachmittagen in der katholischen Schule zu Haunstetten zu erteilen. Das Entgegenkommen, das Herr Pfarrer Spickermann in diesem Punkte bewiesen dadurch, dass er aus freien Stücken den Kindern einmal den Weg erspart, verdient besondere Anerkennung und den wärmsten Dank der Beteiligten. Es ist nur zu bedauern, dass man sich nicht früher schon auf diesem gütlichen Wege geeinigt und dadurch alle die gegenwärtigen Weiterungen überflüssig gemacht hat. Es darf jetzt aber auch von den in Betracht kommenden Eltern erwartet werden, dass sie einsichtig genug sind, nunmehr zu tun, was an ihnen liegt, um einen geordneten Schulbetrieb zu ermöglichen. Denn dass es früher manchmal daran gefehlt hat, lässt sich wohl nach allem, was die bisherigen Erörterungen über die Angelegenheit ergeben haben, nicht bestreiten. Möge es künftig nicht mehr an der so nötigen Harmonie mit den Schulbehörden und an deren Unterstützung durch die Eltern mangeln. Wir hatten uns für umso berechtigter, in diesem Sinne eine Mahnung an die Arbeiter zu richten, als wir auf der anderen Seite auch ihre uns begründet erschienenen Ansprüche aufs Kräftigste verfochten haben. Wenn die Arbeiter diese unsere Mahnung beherzigen und auch ihrerseits, soviel an ihnen gelegen, den Schulbehörden ihre Aufgabe erleichtern, dann dürfen sie auch umso eher auf einen für sie günstigen Ausfall der endgiltigen Entscheidung rechnen, von der wir wünschen, dass sie alle dabei interessierten Kreise soviel als möglich befriedigen und dauernde gute Schulzustände in Meringerau-Siebenbrunn schaffen möge.“

Häresie und Strafrecht der Kirche
Der Siebenbrunner Schulstreit und sein Ausgang waren dem Zentrum und seiner Presse äußerst unangenehm und unbequem. Nicht minder eine Auseinandersetzung, die ich gelegentlich des öffentlichen Auftretens des bekannten Exjesuiten Grafen Hoensbroech in Bayern mit dem Eichstätter Kirchenrechtslehrer Professor Hollweck über das Thema „Häresie[3] und Strafrecht der Kirche“ hatte. Professor Hollweck bemühte sich in der Augsburger Postzeitung nachzuweisen, dass die katholische Kirche an den an Ketzern vollzogenen Exekutionen völlig unschuldig sei, da sie selbst die Todesstrafe weder ausspreche noch vollziehe. Nicht einmal die spanischen Inquisitoren hätten solches getan. Sie hätten lediglich das Versprechen d. h. den Tatbestand der hartnäckigen Häresie richterlich konstatiert. Dann sei der Verbrecher dem weltlichen Richter übergeben worden, der die Feststellung des Verbrechens nicht mehr nachzuprüfen berechtigt war, sondern lediglich für den Strafvollzug zu sorgen hatte.

Ich erlaubte mir daraufhin festzustellen, dass die Kirche aus Gründen, die sehr nahelägen, die Todesstrafe nicht selbst aussprechen und vollziehen wollte, sondern die des todeswürdigen Verbrechens der Häresie von ihr überführten Verbrecher dem Staate überantwortete, von dem sie ganz genau wusste, dass er die Todesstrafe vollziehen werde, und von dem sie das auch erwartete. Woraus folge, dass die Kirche auch ihr gemessen Teil an der Verantwortung zu tragen habe, die selbst die spitzfindigste Sophisterei nicht hinwegzudisputieren vermöchte. Und besonders wichtig sei, dass dieses Strafrecht gegenüber der Häresie von den Theologen für die Kirche, wie aus den Ausführungen Hollwecks selbst hervorginge, auch heute noch als ein ihr zustehendes Recht beansprucht werde, wenigstens in der Theorie. Wenn es praktisch nicht mehr wirksam werde, so sei wahrhaftig nicht ihrem Willen, sondern lediglich dem Umstand zuzuschreiben, dass sie nicht mehr über die nötige Macht und den Einfluss auf die weltlichen Regierungen verfüge, wie das in den mittelalterlichen Staaten der Fall gewesen.

Solche Erörterungen kamen dem politischen Katholizismus, dem Zentrum und seiner Presse, ganz und gar ungelegen, weil sie ihre politischen Zirkel und Bestrebungen empfindlich als irgendetwas anderes zu stören geeignet waren. Gerade darum machte ich es mir zur besonderen Aufgabe, derartige Dinge aufzugreifen und mit dem gebotenen Nachdruck zu behandeln.

Die Endziele des Ultramontanismus
In dieses Gebiet gehörten auch Artikel, die ich über die „Endziele des Ultramontanismus“ schrieb. Diese Endziele des Ultramontanismus sind festgelegt in den 80 Sätzen des Syllabus des Papstes Pius IX. vom Jahre 1864. Um zu beweisen, dass die für den Katholiken verpflichtenden Forderungen des Syllabus, die übrigens negativ formuliert sind d. h. feststellen, was der Katholik nicht glauben, tun und dulden darf, die aber nach katholischer Lehre selbstverständlich auch ins Positive übersetzt verpflichtend sind, mit dem ganzen Wesen des modernen Staates sich absolut nicht vereinbaren lassen, stellte ich vor allem die Zusicherungen der bayerischen Verfassung hinsichtlich der Gewissensfreiheit und die entsprechenden Sätze des Syllabus, die die Gewissensfreiheit verwerfe, einander gegenüber. Woraus sich ergab und zwar durchaus unmissverständlich, dass der Syllabus in allem das Gegenteil dessen verlangt, was die Verfassung allen Bayern ohne Unterschied des Bekenntnisses und des Standes feierlich garantierte. In meinen Artikeln wurde weiter nachgewiesen, dass der Syllabus den Anspruch auf die absolute Herrschaft über das gesamte Bildungs- und Unterrichtswesen erhebt, dass er die ganze staatliche Ehegesetzgebung verwirft, und dass auch König und Fürsten von der Jurisdiktion der Kirche nicht ausgenommen seien.

Die kochende Volksseele
Als das Zentrum in Bayern noch um die unumschränkte Macht im Staate kämpfte, spielte in seiner Presse bei ihrem Ansturm gegen die verhassten „liberalen“ Minister Crailsheim, Feilitzsch, Asch etc. die man vom Stängele herunterzuholen entschlossen war und schließlich ja auch herunterholte, die „Kochende Volksseele“ eine große Rolle. Diese schöne Erfindung der Zentrumsdrahtzieher – in Wirklichkeit kochte die gute bayerische Volksseele ganz und gar nicht – war begreiflicherweise ein dankbares Objekt für die Witzblätter, und auch die politischen Gegner des Zentrums ließen es sich natürlich nicht nehmen, bei Gelegenheit die lächerliche Phrase gehörig zu zerpflücken. Das kriegte am Ende das Zentrum selber satt, und so verfiel man darauf, die kochende Volksseele bzw. ihre Erfindung dem bösen Liberalismus an die Rockschöße zu hängen. Das habe ich den Herrschaften aber verleidet, denn ich hatte ein gutes Gedächtnis und war in der Lage nachzuweisen, dass dem Zentrum selbst das Urheberrecht nicht bestritten werden konnte. Ich schrieb dazu also in der Augsburger Abendzeitung:

„Einer namenlosen Unverfrorenheit erfreut sich die „Augsb. Postztg.“ Sie bringt es in ihrer letzten Nummer – wir trauten unsern Augen kaum – fertig, den Ausdruck von der „kochenden Volksseele“ als liberales Produkt hinzustellen. Der „Hannoversche Kurier“ soll ihn verbrochen haben. Aber bitte, Verehrteste, Sie sind doch zu bescheiden, das Erfinderrecht an dieser prächtigen Stilblüte gebührt Ihnen ganz allein. Verleugnen Sie vergangenen Jahres zu der Zeit, als die Partei- bzw. Delegiertentagfrage brennend war, da erklärte ein biederer Zentrumsabgeordneter in einer Zuschrift an die „Augsburger Postzeitung“, recht gut zu wissen, wie es in der Volksseele koche. Und von Stund an kochte sie, die Volksseele, bald etwas mehr, bald etwas minder, je nachdem die Köche das Feuer schürten. Kurz vor dem Parteitag fing sie wieder – auch diesmal hat es die Augsburger Postzeitung selbst der Welt zu wissen getan, nicht etwa die bösen liberalen Blätter erfanden es bloß – besonders heftig zu kochen an. Die Augsburger Abendzeitung hat nach der Augsburger Postzeitung diese erschütternde Tatsache gebührender maßen konstatiert, und nachher erst hat eine Münchner Korrespondenz des Hannoverschen Kuriers dasselbe getan. Also mit dem „liberalen Produkt“ ist es nichts. Zu weit darf man die Unverfrorenheit doch auch nicht treiben. Dr. Schädler hat die „kochende Volksseele“ allerdings nicht erfunden, er hat sie bloß nachgesprochen und eine „überschäumende“ – hoffentlich ist bei diesem Überkochen der merkwürdigen Seele nicht allzuviel von dem kostbaren Inhalt verloren gegangen – Daraus gemacht. Das Autorrecht gebührt der Augsburger Postzeitung und soll ihr für ewige Zeiten gewahrt bleiben.“

Der Maler erfreut die Gelangweilten
Als der Malerfürst Lenbach aus dem Zeitlichen ging, konnte ein bayerisches Zentrumsblatt es sich nicht versagen, dem großen Toten noch einen Eselstritt zu versetzen. Es glaubte dabei offenbar besonders geistreich zu sein, indem es einen Vergleich zog zwischen dem dahingegangenen Künstler und dem gleichzeitig verstorbenen Superior Ringeisen von Ursberg[4], einem edlen Pfarrer, der sein ganzes Leben jenen unglücklichen Wesen widmete, die ein grausames Schicksal verblödet in die Welt setzte. Dem pietät- und taktlosen Artikelschreiber habe ich in der Augsburger Abendzeitung wie folgt auf die Finger geklopft:

„Jemand hat den Geschmack besessen, aus dem Zufall, dass der große Maler Franz von Lenbach und der große Menschenfreund und Vater der unglücklichsten Geschöpfe, Superior Ringeisen von Ursberg, zu gleicher Zeit auf dem Totenbette lagen, Veranlassung zu einem ultramontanen Blatte geschehen. Man konnte es sich nicht nur nicht versagen, den Umstand, dass Lenbach ohne den Beistand eines Pristers gestorben ist und begraben ward, was doch schließlich allein seine Sache war, in der gefühllosesten Weise auszuschlachten, nein, man glaubte sich auch die Gelegenheit nicht entgehen lassen zu dürfen, die Kunst Lenbachs in verächtlicher Weise herabzuwürdigen. „Der Maler erfreut die Gelangweilten“, dieser Satz ist so charakteristisch für die ultramontane Auffassung des Zweckes der Kunst – ein ausdrücklicher Wunsch, und daß die Patres eine rührende Dankbarkeit dafür an den Tag legten, es hätte Tobsuchtsanfälle in den frommen Redaktionen darob gegeben. Bei jedem Jahreswechsel liefen aus allen bayerischen Klosterniederlassungen dieses Ordens herzliche Dankbriefe für die erwiesene Wohltat bei uns ein mit der Bitte, sie auch im folgenden Jahre wieder zu gewähren. Der begeistertste und wärmste Freund unseres Blattes aber war der bayerische Obere dieses Ordens selbst, der aus seinem Herzen ganz und gar keine Mördergrube machte. In dem Dank- und Glückwunschbrief, den er beispielsweise Ende Dezember 1908 an uns schrieb, führte er u. a. aus:

„Mit den herzlichsten Glückwünschen zum bevorstehenden Jahreswechsel verbinde ich den Ausdruck meines innigsten, tiefstgefühlten Dankes für das hohe Wohlwollen, mit dem mir auch im ablaufenden Jahre ein Freiexemplar der Augsburger Abendzeitung gewährt worden ist. Ich kann kaum aussprechen, welch‘ große Wohltat mir dadurch seit Jahren erwiesen wurde. Welcher verständig denkende Mensch könnte aus den zwei großen Zentrumsblättern, Postzeitung und Bayerischer Kurier, seine geistige Nahrung schöpfen! Die Postzeitung ist ja etwas vorsichtiger geworden. Aber ganz unqualifizierbar ist das Gebahren des Bayer. Kurier, wie sich im letzten Prozess Dr. Güttler wieder gezeigt hat. Ich habe mit Exzellenz v. Türk[5]) über diesen Punkt korrespondiert, und zu meiner Freude trafen wir uns in der gemeinsamen Ansicht, dass ein Mann, der auf Anstand hält, den Kurier überhaupt nicht mehr lesen kann, da derselbe mit dem Fanatismus eines bissigen Köters über jeden herfällt, der anderer Ansicht zu sein wagte. Die letzte aus spanischem Inquisitionsgeist geflossene Enzyklika hat ja den Weg hierzu gewiesen: wer anders denkt, ist voll Hochmut und Heuchelei! Wo ich mit einem hervorragenden katholischen Manne (ich nenne z. B. Reichsrat v. Miller[6]) über diese Frage zu sprechen komme, herrscht Einig-keit darüber, dass durch den seit Jahren eingerissenen Ton, der aus der Missachtung vor fremder Überzeugung, aus dem Hineintragen politischer Leidenschaft und Skrupellosigkeit in das Gebiet der Religion herausgewachsen ist, gerade die gebildeten katholischen Kreise nach und nach gänzlich abgestoßen werden. Mit höchstem Bedauern muss man jeden Tag mehr konstatieren, dass die katholische Kirche im Interesse der Autorität, die nichts zu beweisen braucht, einem papanistischen Köhlerglaube zusteuert, der keinen Beweis verlangt.

Seit den Jahren, da ich die Abendzeitung lese, habe ich darin eine Übereinstimmung mit meinen eigenen Ansichten gefunden. Ich habe nicht erfahren, dass die Abendzeitung prinzipiell gegen alles Katholische kämpft, sondern nur gegen jene Auswüchse, welche auch ein vernünftig denkender gebildeter Katholik vom Grunde des Herzens verabscheuen muss, weil sie das friedliche Zusammenleben verschieden denkender Menschen verhindern und überall da Hass säen, wo das große Gebot der Liebe alle Menschen umschlingen soll.

Diese Tatsachen machen mir die Abendzeitung so wertvoll, dass ich sie nur schwer entbehren könnte. Daher gestatte ich mir auch heuer die inständige Bitte, Euer Hochwohlgeboren möchte mir, wenn es möglich ist, für das kommende Jahr 1909 wieder ein Freiexemplar gütigst anweisen.“

Ein Jahr später schrieb derselbe Ordensmann:
„Da mir die Lektüre dieser gediegenen, inhaltreichen Zeitung zu einem lieben Bedürfnis geworden ist, wage ich die ergebende Bitte, mir, wenn es möglich ist, auch für das Jahr 1910 wieder in gewohnter Güte ein Freiexemplar anweisen zu wollen. Sie haben sicher keinen dankbareren Leser als mich. Ich bin heuer wegen meiner modernistischen Ansichten kraft der Modernisten-Enzyklika gemaßregelt worden: ich musste auf Drängen des Nuntius, der mich sonst suspendiert hätte, meine philosophische

Tätigkeit bei unseren Ordensklerikern aufgeben, und ich fürchtete, dass mir auch das Lesen der „kirchenfeindlichen“ Abendzeitung verboten würde. Soweit kam es aber gottlob doch nicht. Ich erwähne dies nur, um zu zeigen, was man davon zu halten hat, wenn der Nuntius[7]) wie z. B. im Falle Tremel erklärt, er kümmere sich um solche Dinge nicht und habe davon erst durch Zeitungen erfahren. Ich kenne den Herrn schon von Rom her, und als ich erfuhr, dass er zum Nuntius ernannt sei, wusste ich sofort, dass wir einen Groß-Inquisitor bester Güte nach Bayern bekommen werden. Rom schickt keine Trotteln als Nuntien hinaus, und die beiden allmächtigen Kardinäle Merry del Val und Vives y Tuto, deren Gefangener der sonst wohlwollende Papst[8]) ist, kennen sicher ihre Leute genau.“

Als 1915 manche Blätter mit Rücksicht auf die Papierknappheit und andere durch den Krieg bedingte Schwierigkeiten ihre Freiexemplare einschränkten oder abschafften, da schrieb unser Freund:

„Da ich natürlich annehmen muss, dass auch die Abendzeitung mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, wage ich nicht mehr, eine Bitte um Weitergewährung eines Freiexemplars auszusprechen. Genehmigen Euer Hochwohlgeboren meinen herzlichsten und innigsten Dank für die überaus große Wohltat, die ich während so vieler Jahre durch die gütige Gewährung eines Freiexemplars zu empfangen das Glück hatte. Ich werde dieselbe, solange ich lebe, nicht vergessen. Das Fehlen der gewohnten Lektüre ist vielleicht auch ein Opfer, das unserer großen, ruhmreichen Zeit gebracht werden muss.“

Wir konnten indes den Klöstern das Freiexemplar noch ein weiteres Jahr gewähren, bis 1916 das stellv. Generalkommando die Abgabe von Freiexemplaren verbot. Darauf erhielten wir von dem Pater noch einen Brief, in dem es u. a. heißt:

„Auf die Freude und den Genuss, den mir das Lesen des geliebten Blattes täglich verschaffte, muss ich nun freilich verzichten – es ist eben der Krieg. Aber für unsere Bibliothek dürfte gesorgt werden. Ich kenne hier einen Abonnenten der Abendzeitung, der uns gewiss während des Krieges seine Exemplare aufbewahren wird, damit wir die Sammlung in unserer Bibliothek vervollständigen können. Eine tägliche Entleihung jeder Nummer von Seiten dieses Abonnenten wäre zu umständlich, da er an den meisten Tagen selbst erst Abends zum Lesen seiner Zeitungen kommt. Gestatten Euer Hochwohlgeboren nochmals den Ausdruck meines tiefen Dankes für die langjährige Wohltat. Ich werde derselben dankbarst und segnend gedenken, solange ich lebe.“

Die Patres dieses Ordens waren natürlich keineswegs unsere einzigen geistlichen Freunde, auch in anderen Orden, im Stadt- und Landklerus ganz Bayerns, unter den Professoren der katholischen theologischen Fakultäten in München und Würzburg und der theologisch-philosophischen Hochschulen (damals Lyzeen geissen) der einzelnen Diözesen, ja sogar in mehr als einem Domkapitel hatten wir gute Freunde und gelegentliche Mitarbeiter, die uns in den Stand setzten, über manche kirchliche oder die Kirche mehr oder minder stark berührende Angelegenheiten zum größten Ärger und Leidwesen der Zentrumspresse besser unterrichtet zu sein und deshalb zutreffender berichten zu können wie diese löblichen „Hilfsmittel der Seelsorge“. Auf einzelne besonders charakteristische Fälle wurde an anderen Stellen näher eingegangen. Hier erwähne ich nur noch eine Polemik, die ich gegen die Augsburger Postzeitung zu führen gezwungen war, als sie wieder einmal recht liebevoll mit unseren geistlichen Mitarbeitern sich beschäftigte. Anlass dazu gab ihr ein Artikel der Augsburger Abendzeitung, der dem französischen Kanonikus Rosenberg, einem Konvertiten, gewidmet war. Dieser fromme Ehrenmann entpuppte sich schließlich als ein großer Schwindler, dessen Gaunereien zu Anfang des Jahrhunderts in ganz Europa größtes Aufsehen erregten. Wir hatten uns die Freiheit genommen, den Mann einen abgefeimten Halunken zu nennen, womit ihm sicher kein Unrecht geschah, wofür uns aber die Postzeitung der Katholikenfeindlichkeit bezichtigte. Ich erwiderte darauf u. a.:

„Also mehr Respekt vor katholischen Gaunern! Solche Ehrenmänner, zumal wenn sie auch noch im geistlichen Gewande stecken, darf man beileibe nicht beim richtigen Namen nennen, wenigstens dürfen liberale Blätter das nicht. Dagegen hat die ultramontane Presse das Vorrecht, geistliche Herren, die weiter nichts verbrochen haben, als dass sie sich einmal den Luxus einer eigenen Meinung erlaubten, in der gemeinsten Weise zu beschimpfen. An der Qualifikation zur Ausübung dieses schönen Vorrechtes fehlt es ihr nicht, und sie liegt denn auch fleißig solcher würdigen, überaus christlichen Beschäftigung ob. Wir unsererseits werden uns auch durch den Vorwurf der Katholikenfeindlichkeit nicht abhalten lassen, einen Lumpen als solchen zu bezeichnen, mag er im Übrigen sein, wer er will. Das wäre nicht übel, wenn man auch noch die Verbrecher mit zweierlei Maßstab nach konfessionellen Gesichtspunkten messen sollte! Ja, an Verbrecher im geistlichen Gewande könnte man wohl, wenn man wollte, mit Recht einen anderen Maßstab anlegen, aber nach der verschärfenden Richtung hin. Denn wer für sich eine Ausnahmestellung beansprucht, wie es die Geistlichkeit tut, der muss sich auch gefallen lassen, dass man an seinen Taten eine verschärfende Kritik übt.

Natürlich muss die Postzeitung auch wieder ein bisschen entstellen, das gehört einmal zu ihrem Handwerk. Um uns Katholiken- und Kirchenfeindlichkeit unterstellen zu können, reißt sie aus einem langen Artikel willkürlich ein paar Worte heraus, die für ihren Zweck gerade passen. In einem Artikel der Abendzeitung, sagt sie, ist die Rede von „Feinden der Kultur und der Aufklärung“, von „Dunkelmännern schlimmster Sorte, deren einzige Autorität jenseits der Berge wohnt“. Ja, „es ist die Rede“, das stimmt. Die Postzeitung hat bloß eine Kleinigkeit vergessen hinzuzufügen, dass in dem betreffenden Artikel ganz ausdrücklich und allein nur vom Zentrum als politischer Partei die Rede ist. Und Zentrum ist halt trotz Postzeitung und allem immer noch nicht ganz und gar identisch mit katholischer Kirche und katholischer Religion. Unsere Gewappelten[9] scheinen sich allerdings in ihren naiven Gemütern den Himmel als eine große Zentrumsversammlung vorzustellen. Vielleicht schlüpfen aber doch auch noch einige andere durch. Denn es gibt ja immerhin da und dort noch unglückliche Menschen, die von dem großen, allein seligmachenden Zentrum noch nichts gehört haben, sonst aber ganz brave Leute sind. Die Postzeitung wirft endlich unseren geistlichen Mitarbeitern vor, dass sie nicht wagen, auch öffentlich für das, was sie tun, einzutreten, und sagt, allzu großer Wertschätzung und Achtung pflegten sich solche Charaktere gemeinhin nicht zu erfreuen. Was das Letztere anlangt, ist es jedenfalls nicht richtig. Verschiedene unserer geistlichen Mitarbeiter erfreuen sich sogar sehr hoher Wertschätzung und Achtung. Im Übrigen bedauern wir selbst es am Allermeisten, dass diese Herren nicht mit ihrem vollen Namen an die Öffentlichkeit treten können, aber wir wissen die Gründe wohl zu würdigen, und wir haben mehrfach in Fällen, wo wir von den betr. Geistlichen sogar ermächtigt waren, ihre Namen zu nennen, von dieser Ermächtigung keinen Gebrauch gemacht, weil wir sie nicht dem Terrorismus und den niederträchtigen Angriffen der ultramontanen Presse aussetzen wollten. Es ist traurig, aber Tatsache, dass ein katholischer Geistlicher heutzutage kein freies Wort mehr wagen kann, ohne sich den gemeinsten Insulten[10] von derjenigen Seite auszusetzen, die sich sonst als seine privilegierte Beschützerin und Verteidigerin aufwirft!“

Das indiskrete Gutachten eines Domkapitular
Im Jahre 1905 hatte das bayerische Kultusministerium – Kultusminister war dazumal Herr v. Wehner, ein durch und durch katholischer, kirchentreuer Mann – einen Entwurf für eine neue Kirchengemeindeordnung ausarbeiten lassen, der aber zunächst der Öffentlichkeit nicht bekannt gegeben, sondern nur an die bayerischen Bischöfe und ihre Ordinariate sowie an die protestantischen Landeskirchenbehörden „streng vertraulich“ zur Kenntnisnahme und Äußerung hinausgegeben wurde. Sieben von acht Bischöfen hatten an dem Entwurf nichts Wesentliches auszusetzen und gaben ein zustimmendes Votum ab. Nur einer legte in schärfster Weise dagegen los bzw. ließ das durch eines seiner Organe tun. Das war der 87jährige Bischof Ignatius v. Senestrey von Regensburg, der sich während seines ganzen nahezu 50jährigen Pontifikates durch seine Intransigenz[11] vor den anderen bayerischen Oberhirten hervorgetan. Sein Organ war in diesem Falle der Domkapitular Dr. Ludwigs, ein sehr streitbarer Mann, übrigens kein Bayer, sondern ein Norddeutscher, der mit seinem bischöflichen Herrn in kirchlicher Intransigenz wetteiferte. Dieser Dr. Ludwigs nun teilte seine Meinung über den Kirchengemeindeordnungs-Entwurf nicht etwa, wie sich das gehört hätte, dem Kultusministerium vertraulich mit, sondern im Einverständnis mit seinem Bischof trat er mit seinem sog. Gutachten unter schwerem Missbrauch der amtlich verlangten strengen Vertraulichkeit direkt an die Öffentlichkeit. Darüber herrschten nicht nur im Kultusministerium, sondern auch bei den andern Bischöfen und Ordinariaten, die sich an die gebotene Vertraulichkeit gehalten, Ärger und Entrüstung.

Zu einer politischen Sensation wurde die Angelegenheit, als dieser Ärger und diese Entrüstung sich in einem Pressefeldzug entluden, den der damals in der bayerischen Politik sehr maßgebende Passauer Domkapitular und Abgeordnete Dr. Pichler, also ein geistlicher Amtsbruder des Herrn Dr. Ludwigs, gegen diesen wegen seines sog. Gutachtens eröffnete. Dr. Ludwigs blieb dem  Passauer Kollegen nichts schuldig, und für die Gegner des Zentrums war dieser Zweikampf der Domkapitulare selbstverständlich ein vergnügliches Schauspiel und ein gefundenes Fressen. Den Regensburgern, dem Dr. Ludwigs und seinem Meister und Auftraggeber Senestrey, war es übrigens, was die Augsburger Abendzeitung zu deren Verdruss gleich von Anfang an festzustellen sich erlaubte, bei diesem ihren Gutachten über die Kirchengemeindeordnung gar nicht so sehr auf diese selbst angekommen, sie hatten vielmehr hier eine gute Gelegenheit zu einer viel größeren und umfassenderen Aktion erspäht, nämlich einem ihnen von jeher verhassten Teil der bayerischen Verfassung, dem Religionsedikt von 1818[12], zu Leibe zu gehen. Dieses Religionsedikt hatte den für den bayerischen Staat außerordentlich bedeutungsvollen Zweck, den bayerischen Staatsbürgern protestantischen Bekenntnisses, die immerhin nahezu ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, die Freiheit ihrer Religion zu garantieren, die durch das bayerische Konkordat zweifellos bedroht war. Denn wenn dieses Konkordat nach dem Buchstaben ausgelegt und vollzogen worden wäre, wäre die katholische Religion in Bayern zur Staatsreligion geworden, was freilich nach der Anschauung gewisser Leute ein Idealzustand gewesen wäre, was aber die bayerischen Protestanten ganz gewiss nicht als solchen empfunden hätten. In Dutzenden von Artikeln habe ich die Rechte und den Standpunkt des Staates gegenüber der kirchlichen Intransigenz der Regensburger verfochten. Übrigens herrschte nicht einmal im Regensburger Domkapitel Einigkeit über das Ludwigs‘sche Gutachten, und sogar der Bayer. Kurier musste zugeben, dass Dr. Ludwigs „nun einmal nicht von dem Fehler loszusprechen sei, dass er ein mit dem Vermerk „vertraulich“ bezeichnetes Aktenstück zum Gegenstand einer Broschüre gemacht habe und dass man etwas, was man amtlich erfahre, unmöglich zum Objekt öffentlicher Erörterung machen dürfe“.

Eine neue Wendung erhielt die Angelegenheit durch eine Mitteilung, die die Augsburger Abendzeitung aufgrund von Informationen aus geistlichen Kreisen Regensburgs machen konnte und die dahin ging, dass vom Kultusministerium dem Ordinariat Regensburg wegen des durch das Ludwigs‘sche „Gutachten“ begangenen Vertrauensbruches eine scharfe Rüge erteilt worden sei. Diese Mitteilung erregte bei Herrn Dr. Ludwigs und seinen Freunden maßlosen Zorn, und wir wurden von der Zentrumspresse mit negativen Liebenswürdigkeiten geradezu überschüttet. Diese Presse hatte die Stirn, für‘s Erste einmal überhaupt zu leugnen, dass das Regensburger Ordinariat vom Kultusministerium einen Wischer[13] bezogen hatte. Später bequemte man sich dazu, von Mitteilungen zu sprechen, die vom Kultusministerium an das Regensburger Ordinariat gegangen wären. Besonders schön drückte sich der Bayer. Kurier aus, der von einem „Gedankenaustausch“ sprach, der zwischen München und Regensburg stattgefunden hätte.

Die Rüge wollte man absolut nicht wahrhaben. Der allgewaltige Regensburger Generalvikar Dr.Leitner selbst erklärte, es hätte keine der ministeriellen Mitteilungen tatsächlich eine scharfe Rüge gegen das Vorhaben des Ordinariats in Betreff des Ludwigs‘schen Gutachtens enthalten.

Und dann kam doch der Tag, an dem der Kultusminister die Rüge sozusagen amtlich bestätigen musste, da er sich genötigt sah, in der Abgeordnetenkammer nähere Mitteilungen über seinen „Gedankenaustausch“ mit dem Regensburger Ordinariat zu machen. Und da stellte es sich denn heraus, dass die Augsburger Abendzeitung seinerzeit mit ihrer „scharfen Rüge“ durchaus richtig informiert war. Ich schrieb daraufhin in der Augsburger Abendzeitung u. a.:

„Wir dächten, die Sprache dieser ministeriellen Mitteilungen wäre deutlich genug. Und das Regensburger Ordinariat hat sich selbst ja dem Minister gegenüber über die harten Ausdrücke seiner Entschließung beklagt. In dem Schimpfstil der Zentrumspresse pflegen allerdings Ministerien ihre Tadelsvoten einstweilen noch nicht zu kleiden, namentlich gegenüber Behörden, die ihnen nicht eigentlich untergeordnet sind. Aber wenn ein bayerischer Kultusminister heutzutage mit einem bischöflichen Ordinariat in einem Tone redet, wie es hier geschehen und zwar mit Recht, und wenn sogar die Einleitung von disziplinären Maßnahmen gegen den Schuldigen verlangt wird, so will das schon etwas heißen, und man macht sich wahrhaftig keiner Übertreibung schuldig, von einer scharfen Rüge zu reden. Die Zentrumspresse gibt das jetzt indirekt selbst zu. Sie ist sehr aufgebracht darüber, dass der Minister die für sie unangenehme Sache in so detaillierter Form in die Öffentlichkeit brachte, und die Augsburger Postzeitung meint z. B., ebenso wie es einem Ministerium nie einfallen werde, Rüffel, die es an die Regierungspräsidenten hinausgebe, zu veröffentlichen, weil das Interesse des Staates das verbiete, ebenso verbiete es das Interesse des Staates, die von ihm unabhängige kirchliche Autorität zu diskreditieren. Wo blieb denn die Sorge der Zentrumspresse um das Interesse des Staates, als Herr Dr. Ludwigs mittels einer groben Indiskretion den Versuch machte, das Zustandekommen eines Gesetzen, das der Staat in seinem und im Interesse der Kirchengemeinschaften für notwendig hält, zu hintertreiben.

Es war also eine veritable Rüge oder ein Rüffel, wenn man es so nennen will, was das Regensburger Ordinariat sich zuzog, und die Augsburger Abendzeitung war durchaus gut und zutreffend unterrichtet, als sie diese Mitteilung der Öffentlichkeit übergab… Für die schmähliche Haltung der Zentrumspresse in diesem Falle gibt es eigentlich nur zwei Erklärungen: entweder sie hat bewusst unehrlich gehandelt, oder sie ist von Regensburg unehrlich informiert worden! Die Herrschaften mögen sich aussuchen, was von den beiden ihnen lieber ist. Eine dritte Möglichkeit, dass die Zentrumspresse damals in den Tag hinein Behauptungen aufstellt, ohne überhaupt etwas zu wissen, wollen wir zu ihren Gunsten nicht annehmen.

Weil wir gerade an der Gedächtnisauffrischung sind, so mag hier auch noch an das jetzt noch umso merkwürdiger erscheinende Dementi erinnert sein, welches am 15. September die „Correspondenz Hoffmann“, jedenfalls auf Veranlassung des Kultusministeriums, gegenüber unserer Mitteilung von dem Rügeerlass brachte. Dieses Dementi hatte folgenden Wortlaut:

„Die von der Augsburger Abendzeitung gebrachte Notiz über einen Erlass des Kultusministeriums an das Ordinariat Regensburg wegen Veröffentlichung des Dr. Ludwigs‘schen Gutachtens über die Kirchengemeindeordnung ist in mehrfacher Beziehung so, dass dem bischöflichen Ordinariat Regensburg eine scharfe Rüge erteilt worden sei, dass weitere Verhandlungen mit dem Ordinariat in der Sache nicht möglich seien u. a., unzutreffend.“

Hier sieht man wieder einmal an einem eklatantem Beispiel, was von offiziösen Dementi mit seinen gestrigen Mitteilungen zusammenhält, dann wird er wohl selbst im Stillen über seine Dementierkunst lächeln. Dieses rein formelle Dementi war weiter nichts als ein bloßes Opportunitätsprodukt. Die anderen Bischöfe sollten offenbar nicht kopfscheu gemacht werden. Ein Minister kann wohl einmal in die Lage kommen, zu solchen Mitteln greifen zu müssen, schön sind sie trotzdem nicht.“

Natürlich hatte sich die Zentrumspresse im Verlauf dieses Falles redlich Mühe gegeben, dem Informator der Augsburger Abendzeitung auf die Spur zu kommen. Man suchte ihn in erster Linie im Kultusministerium. Die Fährte war aber ganz falsch. Dann suchte man in Regensburg nach dem Verbrecher. Aber dort, wo man ihn vermutete, nämlich im Domkapitel, war er nicht. Es ist ja möglich, dass unser Mann seine Wissenschaft von dort bezog, ich habe sogar Anhaltspunkte dafür, dass es so war. Und ich habe mich eigentlich gewundert, dass man in Regensburg auf die sehr naheliegende Persönlichkeit nicht kam. Ich will auch heute den Namen nicht nennen, obwohl der Mann schon lange, lange tot ist. Es war ein Geistlicher in bevorzugter Stellung, der uns auch sonst noch manche für uns sehr schätzenswerte und immer hieb- und stichfeste Mitteilungen zukommen ließ. So auch in der Affäre, die ich nun behandeln will und die eine der interessantesten und sensationellsten war, die mir in jener Zeit unter die Finger kam. Der Artikel, mit dem ich in der Augsburger Abendzeitung im Jahre 1906 diese Sache einleitete, hatte den nachstehenden Wortlaut und trug die Überschrift:

Die Bischofsmacher an der Arbeit
Die Diözese Regensburg leidet seit langem unter außergewöhnlichen Verhältnissen. Ihr Oberhirte, Bischof v. Senestrey, ist infolge von Altersschwäche schon geraume Zeit nicht mehr imstande, sein bischöfliches Amt selbst auszuüben, und seit etwa einem Jahre überhaupt dispositionsfähig. Das ist eine Tatsache, die dadurch nicht aus der Welt geschafft wird, dass man sie den Diözesanen fortgesetzt und geflissentlich zu verheimlichen sucht. Nun ist allerdings dem Bischof v. Senestrey in der Person des Herrn v. Ow ein Weihbischof beigegeben, allein der Weihbischof vertritt den Oberhirten lediglich in den kirchlichen Funktionen, hat aber mit der eigentlichen Leitung der Diözese gar nichts zu tun. Diese liegt ausschließlich in den Händen des Generalvikars Dr. Fr. X. Leitner, dessen Regiment hinlänglich bekannt ist und der sich deshalb einer nicht gewöhnlichen „Beliebtheit“ zu erfreuen scheint. Da die Tage des Bischofs v. Senestrey bei seinem hohen Alter und seinem körperlichen und geistigen Zustande menschlicher Voraussetzung nach gezählt sein dürften, so herrscht natürlich in der Diözese eine gewisse Spannung und, sagen wir es rund heraus, lebhafte und nicht unbegründete Befürchtung bezüglich der künftigen Gestaltung der Dinge an den leitenden Stellen der Diözese. Man weiß, dass Herr Generalvikar Dr. Leitner nur allzu gerne bereit wäre, das Erbe Senestreys, dessen unumschränkter Verwalter er tatsächlich seit Jahren schon ist, auch wirklich anzutreten. Herr Dr. Leitner soll für den Fall, dass das möglich gewesen wäre, schon vor längerer Zeit in Rom seine Vorkehrungen dazu getroffen haben, wie auch bekannt ist, dass einer der römischen Agenten, welche die Mittelsmänner in solchen Angelegenheiten spielen, im letzten Herbst wiederholt in Regensburg war. Inzwischen scheint allerdings Herr Dr. Leitner die Unerreichbarkeit dieses Zieles eingesehen und sich deshalb ein anderes gesteckt zu haben, auf das er jetzt mit aller Energie lossteuert. Wenn er den Stuhl des hl. Wolfgang schon einmal nicht selbst soll besteigen können, so will er doch seine jetzige Macht nicht verlieren. Er will Generalvikar bleiben, und er weiß sehr wohl, dass er das nur unter einem Nachfolger Senestreys kann, den er selbst dazu gemacht und der deshalb auf ihn angewiesen ist. Der Mann, den er sich dazu ausersehen, ist der Weihbischof v. Ow, der nach Leitners Anschauung ein „recht guter Mann“ ist und die Gewähr bietet, dass unter ihm in den jetzigen Verhältnissen bezüglich der Leitung der Diözese eine wesentliche Änderung nicht eintreten wird. Dr. Leitner hat auch bereits in Rom sowohl wie in München Schritte getan, um die Herbeiführung dieses für ihn wünschenswerten Zustandes sicherzustellen. Es soll zu diesem Zweck Weihbischof v. Ow als coadjutor cum succedendi d. h. mit dem Rechte der Nachfolge Senestreys aufgestellt werden, um für den Fall des Eintritts der Katastrophe alle andern Möglichkeiten auszuschließen. In München und Rom wird eifrigst gearbeitet, um dem Weihbischof v. Ow den Weg zum Stuhle des hl. Wolfgang zu bahnen. Rom gegenüber sind etwa sonst in Betracht kommende Kandidaten dadurch abgetan worden, dass man sie als „kanonisch nicht geeignet“ bezeichnete, und in München hat man sich hinter gewisse adelige Damen gesteckt und sogar Prinzen und Prinzessinnen für die „guat sach“ in Bewegung gesetzt. Es soll in Regensburg auch schon ein prinzlicher Brief mit der Versicherung „nach Kräften mitzuhelfen“ eingetroffen sein, was, so wird uns versichert, die beiden beteiligten Herrschaften dort mit großer Siegeszuversicht erfüllt habe.

Hoffentlich ist aber die Sache damit noch nicht entschieden. Wir können nicht glauben, dass es in Bayern schon soweit gekommen ist, dass die Gunst auch noch so hochstehender Personen über die Verleihung von Bischofsstühlen entscheidet, und wir haben das Vertrauen zu Regierung und Krone, dass sie allein aufgrund sachlicher Erwägungen und unter Wahrung der Interessen des Staates und auch der wahren Interessen der Kirche ihre Wahl treffen werden. Mit dem System Leitner muss in Regensburg unbedingt gebrochen werden, wenn in der Art und Weise der Führung des Kirchenregiments dort der nicht nur von Laien, sondern auch von einem großen Teil des Klerus ersehnte Wandel eintreten soll. Das ist aber nach der Überzeugung aller, die Einblick in die Verhältnisse haben, nicht möglich, wenn Herr v. Ow Bischof wird, der ja an sich gewiss ein ganz guter und braver Mann, aber völlig von Dr. Leitner abhängig ist. Selbst wenn Dr. Leitner nicht unter ihm Generalvikar bliebe – es ist davon die Rede, dass der Kultusminister für die Ernennung Ows dies Bedingung stellen wolle – so würde das nichts an der Sachlage ändern. Denn Herr v. Ow würde sich als Bischof dann jedenfalls einen Generalvikar ganz nach dem Herzen des Dr. Leitner aussuchen und daher dieser nach wie vor der, wenn auch geheime, so doch tatsächliche Leiter der Diözese bleiben. Wie begründet diese Befürchtung ist, zeigt eine von Herrn v. Ow bekannt gewordene Äußerung, es sei kein anderer im Domkapitel als Dr.Leitner zum Generalvikar geeignet. Wir könnten unsere Ausführungen noch mit manchen anderen intimen Einzelheiten illustrieren, wollen es aber einstweilen bei dem Gesagten bewenden lassen, da wir denken, dass das für die Konsuln, die das videre zu besorgen haben, genügen dürfte.

Die Zentrumspresse wird natürlich rasen, dass ein liberales Blatt es sich herausnimmt, den unbequemen Warner in einer Sache zu spielen, die uns nach ihrer Ausschauung gar nichts angeht. Das wird uns selbstverständlich nicht irremachen, da es die Zentrumspresse nach unserer Anschauung ebenso wenig angeht, was wir öffentlich zu behandeln für notwendig halten und was nicht. Zum Überfluss können wir uns darauf berufen, dass wir aus den Kreisen des Regensburger Diözesanklerus unter ausführlicher Darlegung des Sachverhaltes förmlich beschworen wurden, öffentlich auf diese Umtriebe aufmerksam zu machen und Protest gegen sie einzulegen. Wenn die Zentrumspresse sich die Mühe nehmen will, sich etwas zu erkundigen – aber nicht bei Dr. Leitner – wird sie finden, dass wir gut unterrichtet sind und dass unsere Angaben des Tatsachen entsprechen. Und dann müsste sie eigentlich, wenn sie ihren noch immer so sehr betonten Beruf als bestellte Hüterin der Reinheit des Glaubens richtig erfasst, Seite an Seite mit uns Front machen gegen die Versuche, mit unsachlichen und nicht statthaften Mitteln die Besetzung von Bischofstühlen zu beeinflussen. Sie wird sich aber sehr hüten.

Natürlich tat sie das und hütete sich sehr. Dafür aber schimpfte sie maßlos auf das „liberale, kirchenfeindliche“ Blatt das es wagt, in ihre ureigenste Domäne einzudringen. Auf das Geschimpfe zu reagieren verlohnte sich nicht, dagegen musste sachlich von uns noch Verschiedenes gesagt werden. In dieser Hinsicht führte ich in einem weiteren Artikel u. a. aus:

„Wir haben nicht bestritten und wollen nicht bestreiten, dass die Aufstellung eines Coadjutors[14] für den Bischof v. Senestrey notwendig ist, wir haben uns nur dagegen gewandt, dass dieser Coadjutor ein Coadjutor von Dr. Leitners Gnaden sein soll. Will man nun die enge Liierung des Weihbischofs v. Ow mit dem Generalvikar Dr. Leitner bestreiten, will man bestreiten, dass gewisse adelige Damen und bekannte prinzliche Herrschaften in München in Bewegung gesetzt wurden, um den Wünschen der beiden Herren zur Realisierung zu verhelfen? Kann man das Letztere nicht bestreiten, so ist diese Tatsache unseres Erachtens ein Beweis dafür, dass Dr. Leitner und sein Anhang Grund zu der Befürchtung hatten, ohne jene unerlaubte Hilfe nicht zu ihrem Ziele gelangen zu können. Wenn die Sache des Herrn Dr. Leitner und seines Schützlings so einwandfrei und glatt und auch die Sache des Regensburger Diözesanklerus wäre, warum ließ man sie dann nicht den offenen und geraden Weg gehen? Wozu die Geheimtuerei und die Versuche, im Stillen hochstehende Personen, denen eine Einflussnahme auf die Besetzung von Bischofstühlen weder vom staatlichen noch vom kirchlichen Standpunkt aus zusteht, zu gewinnen und für sich nutzbar zu machen, wenn man das Licht der Öffentlichkeit nicht zu scheuen hatte? Dieses Arbeiten im Dunkeln und auf Umwegen war es, wogegen sich unser Protest in erster Linie richtete, und gerade diesen Punkt hat die Postzeitung vollständig mit Stillschweigen übergangen.  Wir hätten aber gar zu gern von der Zentrumspresse die Frage beantwortet gehabt, ob sie es billigt, wenn unverantwortliche Hofkreise sich in derartige Dinge mischen und sie zu beeinflussen suchen. Wir möchten einmal den Lärm dieser Presse hören, wenn das in einem ihren Wünschen entgegengesetzten Sinne geschähe. Einen leisen Zweifel möchten wir uns schließlich noch an der vor der Postzeitung behaupteten Zustimmung des Domkapitels zu den von Dr. Leitner und Weihbischof v. Ow in ihrer Sache getanen Schritten erlauben. Wir haben in diesem Punkte so unsere eigene Anschauung und zwar aus guten Gründen.

Übrigens pfeifen es ja in Regensburg die Spatzen von den Dächern, dass Dr. Leitner auch bei dieser Gelegenheit so wenig wie schon bei früheren Aktionen das ganze Domkapitel hinter sich hat. Was würde die Postzeitung z. B. dazu sagen, wenn wir aufgrund guter Informationen die Behauptung aufstellen, dass das Domkapitel von der Sache überhaupt nichts gewusst hat? U. A. w. g.“

Die Antwort auf diese Frage blieb uns die Augsburger Postzeitung zwar schuldig, dafür gab sie uns ihre Regensburger Gesinnungsschwester, das Regensburger Morgenblatt. In diesem Blatte mühte sich „ein Laie“ – es dürfte wohl der Chefredakteur[15]) gewesen sein – im Schweiße seines Angesichts ab, von den davonschwimmenden Regensburger Fellen noch einen letzten Rest zu retten. Dieser „Laie“ meinte auch, unsere Schläge gälten gar nicht dem Generalvikar Dr. Leitner, sondern dem Weihbischof v. Ow. Worauf ich ihm erwiderte:

„Der Laie darf unserer ehrlichen Versicherung Glauben schenken: sie gelten wirklich bloß dem Herrn Dr. Leitner. Ob Herr v. Ow ohne Dr. Leitner zum Coadjutor der geeignete Mann wäre, könnte man ruhig der Entscheidung der zuständigen Stellen überlassen. Die Gunst adeliger Damen und prinzlicher Herrschaften sollte dabei allerdings aus dem Spiele bleiben. Der Regensburger „Laie“ möchte freilich behaupten, dass um solche Gunst nicht geworben worden sei. Wir bleiben aber trotzdem auf dem Gegenteil bestehen und erlauben uns noch einmal die Frage zu stellen, ob es wahr ist oder nicht, dass in Regensburg ein prinzlicher Brief eingetroffen ist mit dem Versprechen, „nach Kräften mitzuhelfen“? Aber eine glatte Antwort, wenn wir bitten dürfen. Wir halten nämlich gerade diesen Punkt, über den unser „Laie“ mit einem kurzen Satz hinwegschlüpft, nach wie vor für den bedenklichsten in der ganzen Affäre.

Das Allererbaulichste an den langatmigen Ausführungen des Regensburger Blattes ist das unumwundene Geständnis, dass das Domkapitel von der ganzen Sache gar nicht in Kenntnis gesetzt wurde. Die Augsburger Postzeitung hatte in einem, wie man annehmen muss, doch auch von Regensburg inspirierten Artikel keck und munter die Behauptung aufgestellt, das Domkapitel habe seine Zustimmung zu der Aktion des Herrn Dr. Leitner gegeben. Wir wussten damals schon, dass das einfach nicht wahr war, und erlaubten uns deshalb auch an die Postzeitung eine entsprechende Frage zu stellen. Auf die Antwort warteten wir heute noch, wenn sie nicht jetzt das Regensburger Morgenblatt gegeben hätte. Dieser ganze Vorgang wirft ein überaus scharfes Licht auf die Regensburger Zustände. System Leitner! Man stellt in Abrede oder gibt zu, je nach dem man das eben für opportun hält. Jetzt erklärt man, es habe sich um eine vertraulich gestellte Bitte des Bischofs gehandelt, und sobald feststehe, dass diese Aussicht auf Gewährung habe, werde auch das Domkapitel verständigt und gehört werden d. h. mit anderen Worten, sobald ein fait accompli geschaffen ist, wird man nicht ermangeln, das Domkapitel vor dieses zu stellen. Sehr gnädig, in der Tat!

Aus den Schlusssätzen der Ausführungen des Regensburger Morgenblattes geht hervor, dass man in Regensburg wieder eifrig nach dem Gewährsmann der Augsburger Abendzeitung schnüffelt und eine ganz bestimmte Persönlichkeit, die selbst als Coadjutor-Kandidat in Betracht komme, dahinter vermutet. Wir wissen nicht, wer damit gemeint ist, können aber versichern, dass unsere Gewährsmänner kein derartiges oder überhaupt ein persönliches Interesse an der Sache haben, und empfehlen im Übrigen, sich keine unnötige Mühe zu geben, es hilft doch nichts.“

Um den Kernpunkt unseres Angriffs, den prinzlichen Brief ging man in Regensburg nach wie vor herum wie die Katze um den heißen Brei. Direkt die Existenz zu leugnen wagte man doch nicht, weil man immerhin befürchten musste, der Lüge überführt zu werden. Dazu wären wir nämlich in der Lage gewesen. Ich schrieb zu diesem Punkte in einem späteren Artikel noch:

„Wir konstatieren zunächst, dass auf unsere Frage, ob es richtig sei, dass ein prinzlicher Brief mit dem Versprechen, „nach Kräften mitzuhelfen“, in Regensburg eingegangen ist, die erbetene glatte Antwort nicht erteilt wurde. Wir sollten es einmal beweisen, meint das Regensburger Blatt. Man könne den hochw. Herrn Bischof nicht mit Ausfragereien belästigen über Dinge, die nur ihn allein etwas angingen und über die er Dritten keine Auskunft schuldig sei. Das wäre freilich eine bequeme Art, über unangenehme Behauptungen eines Gegners hinwegzukommen. Die Annahme, dass jener Brief tatsächlich existiert, wird aber damit nicht widerlegt, im Gegenteil nur bestätigt. Denn wenn man in der Lage gewesen wäre, mit einem glatten Nein zu antworten, dann hätte man sicher keinen Augenblick damit gezögert. Ein weiterer Kommentar hierzu ist nicht nötig. Die naheliegenden Schlüsse kann jedermann leicht selbst ziehen.“

Außerdem nahm ich in dem gleichen Artikel noch zu der Frage, ob das Regensburger Domkapitel von der Aktion Leitner–Ow unterrichtet worden oder nicht, noch einmal Stellung wie folgt:

„Das Regensburger Morgenblatt verschwendet eine Spalte darauf nachzuweisen, dass dadurch, dass das Domkapitel von der die Aufstellung eines Coadjutors bezweckenden Aktion nicht in Kenntnis gesetzt wurde, kein bestehendes Recht verletzt worden ist. Dieser Nachweis war ganz überflüssig, denn wir hatten eine solche Behauptung gar nicht aufgestellt. Wir hatten uns nur gegen die Behauptung der Augsburger Postzeitung gewandt, dass die Aktion die Zustimmung des Domkapitels gehabt hätte. Der Artikelschreiber der Postzeitung wird sich das doch hoffentlich nicht nur aus den Fingern gesogen haben, sondern vermutlich ist er von irgendeiner Seite in Regensburg in diesem Sinne informiert worden. Eine kindische Freude hat das Regensburger Morgenblatt darüber, dass uns, wie es meint, wohl unversehens der Satz aus der Feder gerutscht sei, wir hätten damals schon, als die Postzeitung jene Behauptung aufstellte, gewusst, dass sie einfach nicht wahr war.

Dass uns der Satz nicht unversehens entschlüpft war, geht schon daraus hervor, dass wir aus dieser unserer Wissenschaft auch schon früher kein Hehl gemacht haben, was aus dem Artikel in Nr. 35 der Augsburger Abendzeitung zu ersehen ist. Wenn das Regensburger Morgenblatt aber aus diesem Satz einen Schluss auf die Herkunft unserer Informationen ziehen möchte dahin, dass sie nur aus dem Domkapitel stammen könnten, so sagen wir ihm nur, dass es sich dabei ganz bedeutend auf dem Holzweg befindet.

So klein, wie das Blatt meint, ist der Kreis derer, die um die Sache wussten, schon damals nicht gewesen. Mehr zu sagen haben wir umso weniger Veranlassung, als es den Regensburger Herrn bei der ganzen Pressekampagne in allererster Linie anscheinend nur darum zu tun ist, herauszubekommen, wer ihnen durch die vorzeitige Aufdeckung ihrer Pläne einen so bösen Strich durch ihre schöne Rechnung gemacht hat.“

Im Übrigen hat, um auch das noch festzustellen, die Aufdeckung dieser üblen Machenschaften um die Besetzung eines bischöflichen Stuhles, die auch von einem sauberen kirchlichen Standpunkt aus streng verurteilt werden mussten und verurteilt wurden, den von uns damit verfolgten Zweck durchaus erreicht. Das System Leitner ging in Regensburg seinem verdienten Ende zu. Nachfolger Senestreys wurde nicht nach Leitners Willen der Weihbischof v. Ow, sondern ein Mann, an den während des Streites kaum jemand, es sei denn vielleicht der Kultusminister, dachte, nämlich der Augsburger Generalvikar Henle, eine überaus würdige, vornehme und repräsentative Erscheinung, für das bischöfliche Amt wie geschaffen.

Der Regensburger Weihbischof v. Ow wurde für die Enttäuschung, die er dort erleben musste, mit dem bischöflichen Stuhl von Passau entschädigt, wo er ohne Leitner ein langjähriges und gesegnetes Wirken entfalten konnte.

Um das Ausschnüffeln unserer geistlichen Gewährsmänner und Mitarbeiter, das bei der Regensburger Affäre besonders deutlich in die Erscheinung trat, mühte sich die Zentrumspresse überhaupt andauernd mit einer unendlichen Geduld, aber wenig Erfolg. Schon als Baron v. Ow zum Weihbischof von Regensburg ernannt worden war und die Augsburger Abendzeitung zuerst in  der Lage war, der Öffentlichkeit diese Tatsache mitzuteilen, tobte die Zentrumspresse, die natürlich den Anspruch erhob, bei Mitteilungen über kirchliche Angelegenheiten in der Vorhand zu sein. Sie ging sogar soweit, zu behaupten, dass unsere Informationen nur auf einem Bruch des Amtsgeheimnisses beruhen könnten. Die Augsburger Postzeitung schrieb z. B.:

„Einen klassischen Beweis, wie in manchen Kreisen ein Amtsgeheimnis gegen unliebsame Personen gehalten wird, hat die Augsburger Abendzeitung seinerzeit erbracht, als Baron v.Ow in Regensburg zum Weihbischof ernannt wurde. Der hochwürdigste Herr Bischof Ignatius, welcher sich diesen Priester persönlich beim Prinzregenten als Weihbischof erbeten hatte, hatte dieses Geheimnis so streng gewahrt, dass sein eigener Generalvikar die Sache erst durch die Presse erfuhr. Denn kaum war die Angelegenheit zur Ausfertigung in eine gewisse Kanzlei gelangt, als auch das genannte liberale Blatt Lärm schlug. Allerdings konnte man die Sache nicht mehr rückgängig machen, dafür war es zu spät. Aber man nahm dafür Rache an dem gleichen Generalvikar, der nicht einmal eine Silbe von der Sache wusste, der sie später erfuhr als die genannte Zeitung und es gerade durch diese zuerst erfuhr. Es ist also höchste Zeit, dass gewisse Stellen die Bedeutung ihres Amtseides klar gemacht werden muss. Sollten aber gewisse Personen gar nicht mehr fähig sein, den Verpflichtungen des Amtseides zu genügen, dann haben sie den Beweis erbracht, dass sie für ihr Amt nicht die nötigen moralischen Eigenschaften besitzen.“

Gerade diesmal hatten sich die Herrschaften so gründlich als nur möglich geirrt. Denn wir waren zu der Nachricht auf einem ebenso einfachen wie natürlichen und durchaus nicht unrechtmäßigen Wege gelangt durch den Stiftspropst Ritter v. Türk, dem niemand anders als die Mutter des Weihbischofs v. Ow die Neuigkeit brühwarm verraten hatte. Ich konnte das angenehme Augsburger „Hilfsmittel der Seelsorge“ wie folgt abfertigen:

„Die Postzeitung hätte doch vielleichtgut daran getan, sich, bevor sie gegen ganz bestimmte Personen solche unqualifizierten Beschuldigungen schleuderte, noch etwas genauer zu erkunden. Dass Herr Generalvikar Dr. Leitner die Ernennung des Weihbischofs v. Ow zuerst aus der Zeitung erfuhr, mag richtig sein, wenn es auch sehr schmerzlich war. Trotzdem hat es, abgesehen von der Geheimkanzlei, die das offenbare Ziel des Angriffs der Postzeitung ist, noch eine Reihe von Personen gegeben, die schon am Tage der Ernennung das Geheimnis kannten und die zu dieser Kenntnis ohne jeden Bruch irgendeines Amtsgeheimnisses oder Amtseides auf dem natürlichsten und durchaus rechtmäßigen Wege gelangten. In München sowohl als in Regensburg ist der Sachverhalt genau bekannt, wir zweifeln nicht, dass der Herr Weihbischof selbst der Augsburger Postzeitung die erschöpfendste Auskunft erteilt hätte, wenn sie die Vorsicht gebraucht hätte, ihn zu fragen, ehe sie ihren Hetzartikel losließ. Oder vielleicht nimmt sich die Postzeitung einmal die Mühe und erkundigt sich bei der Reichsratswitwe Exz. Laura v. Ow, wo ihr über die wahre Sachlage jedenfalls gern Aufschluss erteilt werden wird. Indem wir der Augsburger Postzeitung ausnahmsweise und aus besonderen Rücksichten den Weg andeuten, auf dem sie ihr Fragerecht an, verharren vielmehr auf dem Standpunkt, den wir den periodisch wiederkehrenden Anzapfungen dieses Blattes gegenüber stets eingenommen haben: es geht die Augsburger Postzeitung nichts, aber auch gar nichts an, wo und auf welche Weise wir unsere Informationen beziehen. Wir haben sie noch nie gefragt, woher sie die ihren hat, obgleich wir dazu schon des Öfteren Veranlassung gehabt hätten. Ist die Augsburger Postzeitung der Meinung, unsere Quellen seien besser als die ihrigen, so soll sie sich eben um bessere bemühen – für das Organ der regierenden Partei kann das doch nicht schwierig sein. Aber freilich die gebratenen Tauben fliegen einem auch bei diesem Geschäft nicht in den Mund.“

Es ist bezeichnend für die damaligen politischen Zustände in Bayern, dass die Regierung, die in der Hauptsache noch eine Beamtenregierung war, nicht den Mut aufbrachte, ihre Beamten – noch dazu kam in diesem Falle nur eine ganz kleiner, genau abgegrenzter Kreis, nämlich der der Geheimkanzlei, in Frage – gegen die unerhörten Beschimpfungen Seitens der Zentrumspresse durch eine gerichtliche Verfolgung schützen zu lassen. Weil man Schwierigkeiten mit der allmächtigen sich gebärdenden, vom politischen Klerus dirigierten Zentrumspartei befürchtete, nahm man den Schimpf ruhig hin, statt einmal, wie es hier gerade ganz besonders gut und wirksam möglich gewesen wäre, ein Exempel zu statuieren. Unsere Beamtenbürokratie hat ja wohl immer ehrlich und anständig ihre tägliche Pflicht erfüllt, aber es fehlte ihr leider jeglicher politische Sinn und – von rühmlichen Ausnahmen abgesehen – in entscheidenden Augenblicken in der sie völlig beherrschenden Sorge, um ihre „wohlerworbenen Rechte“ auch der Mut zur eigenen Courage. Ich darf das aussprechen, denn ich glaube in meiner 40jährigen Tätigkeit im journalistischen Sektor der Politik den Beweis erbracht zu haben, dass es mir dabei nicht ganz an einigen Sinn und Gefühl für Politik mangelte, und ich habe durch die Tat erhärtet, dass ich Vaterlandsliebe nicht nur vor sichern Port aus, von dem sichs bekanntlich gemächlich raten lässt, theoretisch an den Tag gelegt, sondern das ich dafür auch mit meiner Person einzustehen entschlossen war. Denn ich habe, als es darauf ankam, über die Sorge für mich und meine Familie die um das Vaterland gestellt und Stellung und Existenz dafür riskiert und verloren. Aber es erfüllt mich heute in meinen alten Tagen noch mit Genugtuung, dass ich meiner Überzeugung dieses Opfer brachte, dass ich die Pflicht, die ich mir mit meinem Beruf selbst auferlegte, treu erfüllte und so die Selbstachtung nicht zu verlieren brauchte. Verlust der Selbstachtung ist gefährlich, namentlich wenn die Krankheit epidemisch auftritt, denn an ihr kann ein ganzes Volk zerbrechen.

Das schwarzrote Bündnis
Zu den schwärzesten Punkten in dem umfangreichen politischen Sündenregister der Zentrumspartei gehört dieses Thema. Immer wieder hat diese Partei, nur um ihre politische Macht zu erhöhen und durch sie hinwiederum ihre konfessionellen Ziele zu erreichen und der Regierung und dem protestantischen Kaisertum Schwierigkeiten zu bereiten, Wahlbündnisse mit der Sozialdemokratie abgeschlossen und praktisch durchgeführt und damit einer Entwicklung die Wege geebnet, die im ersten Weltkrieg und durch die Revolution, die Inflation, die Naziherrschaft und den zweiten Weltkrieg für Deutschland so entsetzliche und katastrophale Folgen zeitigen sollte.

Ihren Anfang nahmen die Techtelmechtel des Zentrums mit der Sozialdemokratie schon in den 90er Jahren. 1899 kam es dann zu dem bildschönen bayerischen Landtagswahl-Kuhhandel, den man verschämt „taktischen Kompromiss“ und „Akt der Notwehr“ nannte. Dass man sich dabei sogar nicht entblödet hat, zur Betreibung dieses Kuhhandels den geweihten Boden eines berühmten alten Domes zu benutzen – wohl weil man glaubte; dort am Wenigsten der Beobachtung durch politische Gegner ausgesetzt zu sein – und das hochgestellte Geistliche sich zu diesem Treiben hergegeben, das stellte sich erst nachträglich heraus. Dem Zentrum war das Bekanntwerden dieser Umstände natürlich äußerst unangenehm. Kein Geringerer als der sozialdemokratische Führer Bebel tränkte das dem befreundeten Zentrum ein, indem er 1904 in einer Wahlrede in Köln die folgende Eröffnung machte:

„Wenn man die Sozialdemokratie als religionsfeindlich bezeichne, so habe das nur den Zweck, um jeden Preis die katholischen Arbeiter von ihr fernzuhalten. In Wahrheit sei das Zentrum bereit, mit der Sozialdemokratie gemeinsame Sache zu machen, wenn sein Vorteil in Frage komme. Als vor fünf Jahren in Bayern die Landtagswahlen vor der Tür standen, lagen die Dinge so, dass keine der bürgerlichen Parteien die Mehrheit hätte erlangen können, welche nicht von der Sozialdemokratie unterstützt worden wäre. Da seien die Führer des Zentrums zu den Sozialdemokraten gekommen und hätten ein Wahlkartell, einen Kuhhandel angeboten. Infolgedessen habe die Sozialdemokratie dem Zentrum zur Mehrheit und das Zentrum der Sozialdemokratie zu elf Landtagsmandaten verholfen. Da war von dem sozialistischen Gottseibeiuns nicht die Rede. Diese beiden Tatsachen: der Dank Liebers für die Haltung der Sozialdemokratie gegenüber dem Jesuitengesetz und das bayerische Wahlkartell sollte man sich merken. Der Wahlschacher zwischen Zentrum und Sozialdemokratie sei abgeschlossen worden in der Sakristei eines der berühmtesten Dome zwischen einem Führer der Sozialdemokratie und einem hohen Geistlichen!“

Die Zentrumspresse suchte die ihr im höchsten Grade unbequeme Geschichte durch endloses bagatellisierendes Drumherumgerede aus der Welt zu schaffen, was ihr aber schlecht gelang, und die Sache wurde noch peinlicher und toller, als man später erfuhr, dass die hohen Geistlichen, die bei dem schändlichen Kuhhandel mitgewirkt hatten und denen als Ort dafür der Speyerer Dom gerade gut genug war, der spätere Münchner Erzbischöfe, Kardinal Bettinger, damals Domkapitular in Speyer, und sein Kollege Zimmern waren. Damit ward wieder einmal und schlagend bestätigt, was man ja so wie so längst wusste oder doch wissen konnte, da es die Tatsachen auch den Blindesten erkennen ließen, dass die katholische Geistlichkeit sich hervorragend und maßgebend in der politischen Drahtzieherei betätigte und überall, wo Wichtiges in der Politik in Frage stand, ihre Finger im Spiel und die Fäden in der Hand hatte.

Ein in München in den beiden ersten Jahrzehnten dieses jahrhunderts sehr bekannter Arzt, Dr. Arno Krüche, ein ebenso origineller wie gescheiter Mann, hat im Dezember 1918, also in den Tagen der Revolution, einmal zu unserm ausgezeichneten Essayisten Josef Hofmiller, der sein Patient war, geäußert:

„Wissen Sie, wann die bayerische Revolution begann? Die bayerische Revolution begann an dem Tage, an dem in der Sakristei des Dom zu Speyer das Wahlbündnis perfekt wurde. Erinnern Sie sich noch, mit welcher Stirn sich später im Landtag Schädler[16]) dieses Handels gerühmt hat? „In der Sakristei eines der ehrwürdigsten Dome Deutschlands“ rief er und ahnte nicht, dass er Bayerns Untergang berief.“ (Hofmiller, Revolutionstagebuch, S109).

Derselbe Krücke hatte schon am 28. September 1918, also eineinhalb Monat vor Ausbruch der Revolution zu Hofmiller gesagt:

„Jetzt werden Sie die Stützen von Thron und Altar bald kennen lernen. Es dauert nicht mehr lange. Jawohl, Verehrtester, jetzt wird die Probe aufs Exempel gemacht. Sehr bald. Sie glauben nicht, wie billig die Menschen sind, Ausschuss regiert die Welt. Alles, was Ausschuss ist, beginnt sich zu fühlen. Ausschuss wird Trumpf.“

Dieser Arno Krüche war auch einer, der klar das Kommende sah und dabei nicht übersah, dass nicht zum Wenigsten die politisierende katholische Geistlichkeit mitschuldig war an unserem Unglück. Die Stützen von Thron und Altar. Ich habe schon im Jahre 1904 einmal das heuchlerische Treiben des Zentrums gegeißelt, dass auf der einen Seite gegen die Kirchen- und Christentumsfeindlichkeit der Sozialdemokratie wetterte, auf der anderen Seite aber sich der Mithilfe eben derselben Sozialdemokratie für seine politischen und konfessionellen Zwecke skrupellos und unbekümmert um die Folgen bediente und dafür die auf diese Weise von ihm, wenn auch vielleicht nicht gewollte, so doch tatsächlich erzielte Förderung der Sozialdemokratie in Kauf nahm. Ich schrieb also:

„In Berlin ist kürzlich nach einem Berichte der „Germania“, des Hauptzentrumsblattes, in einer sozialdemokratischen Versammlung und unter deren lebhaftem Beifall von mehreren Genossen über das Christentum und dessen Stifter Jesus Christus in einer unsagbar rohen und gemeinen Weise gesprochen worden. Ein Redner soll z. B. geäußert haben, der Name Jesus habe für ihn nicht so viel Wert wie der D. … im Rinnstein. Die „Germania“ bringt nun darüber einen von gerechter Entrüstung und Zorn erfüllten Artikel, dessen Quintessenz in der scharfen Betonung der Unmöglichkeit, dass ein christlicher Arbeiter auch jetzt noch einer sozialdemokratischen Organisation beitreten oder angehören könne, liegt. Ganz schön das. Aber hat es für die „Germania“ wirklich erst dieser Berliner Versammlung bedurft, um sie über das wahre Verhältnis der Sozialdemokratie zum Christentum aufzuklären? Andere Leute sind schon nicht mehr darüber im Zweifel, wie die Sozialdemokratie den Satz „Religion ist Privatsache“ gegebenenfalls d. h. wenn sie die Macht dazu hätte, in der Praxis auslegen würde. Und warum ist denn die „Germania“, wenn sie doch einmal daran ging, Folgerungen aus dem empörenden Verhalten der Sozialdemokratie zu ziehen, bei der einen gleich stehen geblieben, während verschiedenerlei weitere doch so nahe lägen? Wie will zum Exempel die „Germania“ ihren flammenden Zorn über die blasphemische Sozialdemokratie mit der Tatsache in Einklang bringen, dass das Zentrum zur Erhaltung und Erweiterung seiner politischen Macht in größter Gemütsruhe Wahlbündnisse mit eben dieser blasphemischen, Christentum und Christentum verachtenden und verspottenden Sozialdemokratie eingeht? Die „Germania“ schreibt:

„Wir fordern die christlich gesinnte Presse auf, den begreiflichen Widerwillen gegen die Wiedergabe dieser Ungeheuerlichkeiten gleich uns zu unterdrücken, damit sie in den weitesten Kreisen unseres Volkes bekannt werden. Dann wollen wir jenen christlichen Arbeiter sehen, der durch seine Zugehörigkeit zu einer sozialdemokratischen Organisation die Billigung einer solchen Besudlung seines religiösen Gefühls ausspricht und durch seine Beiträge das Emporwuchern derartiger Gemeinheit fördert. Er verdient wirklich, der Genosse solcher „Genossen“ zu sein, aber den Anspruch auf die Bezeichnung „christlich“ möge er aufgeben.“

Wir sagen: Die Zentrumspresse teilte jene sozialdemokratischen Ungeheuerlichkeiten ihrer Anhängerschaft völlig ungeschminkt mit und mutet ihr dann im selben Atemzug zu, mit einem sozialdemokratischen Stimmzettel zur Wahlurne zu schreiten. Dann wollen wir jenen Katholiken sehen, der durch die Wahl eines Sozialdemokraten die Billigung einer solchen Besudlung seiner religiösen Gefühle ausspricht und durch Mehrung der Stärke und des Einflusses der Sozialdemokratie das Emporwuchern derartiger Gemeinheiten fördert. Wer wollte bestreiten, dass man das mit ganz dem gleichen Rechte sagen kann? Die Ausrede, dass es sich hier bloß um eine Frage der Taktik handelt, gilt nicht. Es ist keine taktische, sondern eine Prinzipienfrage. Wie kann das Zentrum, das sich immer als diejenige Partei hinzustellen liebt, die allein noch Staat und Gesellschaft vor dem drohenden Untergang retten könne, den Todfeind dieses Staates und dieser Gesellschaft, deren Vernichtung sein ausgesprochenes Ziel ist, direkt unterstützen zumal in einer Zeit, wo dieser Feind so wie so bereits bedrohlich an Boden gewonnen hat und wo es Pflicht aller Freunde der bestehenden Ordnung wäre, sich gegen den gemeinsamen Feind zusammenzuscharen. Das Verhalten des Zentrums lässt nur einen Schluss zu: Es ist selbst kein Freund der bestehenden Ordnung der Dinge im Deutschen Reiche, darum hat es auch kein Interesse daran, die Sozialdemokratie bei ihrer Minierarbeit zu stören. Es wartet nur auf den geeigneten Augenblick um im Trüben zu fischen, will sagen, eine Ordnung der Dinge nach seinem Sinne herbeizuführen. Die Zentrumsentrüstung muss daher, so berechtigt sie an sich ist, eindruckslos bleiben, weil das Handeln den Worten nicht entspricht. Und die Taten, nicht die Worte werden gemessen.“

Wie sagte doch Bebel, der wahrlich von seinem Standpunkt aus kein schlechter Politiker war: Die Anschuldigung der, Religionsfeindlichkeit, die vom Zentrum gegen die Sozialdemokratie erhoben werde, habe nur den Zweck, die katholischen Arbeiter von dieser fern- und damit als Zentrumswähler bei der Stange zuhalten. Hinc illae lacrimae[17]! Daher diese Tränen d. h. hier diese flammende Entrüstung. Sonst aber verfolgt man ruhig in schönster Eintracht und Schulter an Schulter mit dieser Partei die Ziele weiter, die man sich gesteckt und die uns ins Verderben geführt haben. Um den Leser erkennen zu lassen, dass ich die skrupellose Politik des Zentrum durchschaut und richtig beurteilt habe, brauche ich nur darauf hinzuweisen, wie das Zentrum (Erzberger) im ersten Weltkrieg z. B. durch die Unterstützung der österreichischen Abfallabsichten gegen deutsche und für römische Interessen gearbeitet, wie es die Stütze des Thrones, auch die katholische Monarchie in Bayern leichten Herzens preisgegeben, wie es in der Revolutionszeit und in der Weimarer Republik für sich in Trüben gefischt und systematisch die Macht im Staate an sich zu bringen versucht hat und wie sich zu dem Zweck in gewohnter Skrupellosigkeit mit allen Parteien von der Rechten wie von der Linken, je nachdem es glaubte die bessern Geschäfte machen zu können, verbündet und damit über das deutsche Volk Unglück über Unglück gebracht hat.

Man kann so und man kann auch anders.
So hat denn das Zentrum trotz seiner Entrüstung über die blasphemische Sozialdemokratie seine Wahlgeschäfte mit derselben Sozialdemokratie ungeniert und ohne Scheu fortgesetzt, was die einfache Logik des gesunden Menschenverstandes mit Recht als Beweis dafür ansehen konnte, dass es ihm mit der Entrüstung in Wahrheit gar nicht so ernst sein konnte. Gelegentlich freilich hat man bei Wahlen auch gegen die Sozialdemokratie Stellung genommen, wenn und wo das gerade in den Kram passte. Man hielt sieh eben kraft den kirchlichen Einflusses, über den man unumschränkt verfügte, seiner Anhängerschaft so absolut sicher, dass man ihr alles zumuten zu dürfe glaubte. Ja, es kam sogar vor, dass einmal einer von den sonst so bitter gehassten, verfluchten Liberalen Gnade in den Augen des frommen Zentrums fand.

Ein sehr lehrreiches Beispiel hierfür hat die Reichstagswahl von 1903 gezeitigt. Ich habe als politischer Chronist natürlich nicht ermangelt, den Fall entsprechend zu notieren und zu kommentieren:

„Das Zentrum kann so, und es kann auch so, es kann mit der größten Seelenruhe einen Sozialdemokraten wählen oder ihm doch wenigstens, was praktisch auf das Gleiche herauskommt, durch Wahlenthaltung zum Mandate verhelfen, es kann aber auch das Gegenteil, wenn es ihn gerade passt, alles natürlich um der hl. Kirche willen. Dieser Gegensatz hat sich besonders bei den letzten Reichstagswahlen bemerkbar gemacht. In München, Karlsruhe und anderweit hat das Zentrum erklärt, dass es unmöglich, ja geradezu Verrat an der hl. Kirche wäre, wenn ein Zentrumsmann dem Liberalen seine Stimme gäbe. In Offenbach a. M. hat die hl. Kirche offenbar ganz entgegengesetzte Interessen, denn dort hat man so ziemlich das gerade Gegenteil proklamiert. Dort wurde von allen Kanzeln herunter der liberale Kandidat Dr. Becker – der übrigens nach der „Münch. Post“ auch noch ein „schlechter“ Katholik ist, da er in gemischter Ehe lebt – als der Kandidat verkündigt, den jeder Katholik wählen müsse. Von Haus zu Haus sind die Kapläne von früh bis spät gelaufen, um für Dr. Becker zu wirken. In, der vorletzten Nummer vor der Stichwahl wurden in dem zu Dieburg erscheinenden Zentrumsblatt, das von Geistlichen bedient wird, die Frauen aufgefordert, ihre Männer solange zu bitten, bis diese den Becker gewählt hätten. Und in der letzten Nummer vor der Wahl erschien der nachfolgende Aufruf in dem frommen Blatte:

„Es kann und darf kein christlicher Mann für einen Sozialdemokraten stimmen, wenn er nicht die schwerste Verantwortung vor Gott und seinen christlichen Mitbürgern auf sich laden will . . .“Wer darum bei der Stichwahl nicht gegen den Sozialdemokraten stimmt, sondern sich der Abstimmung enthält, verhilft durch seine Wahlenthaltung der Sozialdemokratie zum Siege und ist in seinem Gewissen mitschuldig an all den Folgen, die aus solchem Siege für unser deutsches Vaterland und unsere hl. Kirche entstehen, und diese Folgen sind die denkbar schrecklichsten.“

Merkwürdig, dass diese denkbar schrecklichsten Folgen in München, Karlsruhe und anderswo so gar nichts Schreckliches an sich hatten! Ja, das Zentrum ist in der glücklichen Lage, über Wählermassen zu verfügen, denen man so etwas und überhaupt alles bieten darf.“

Dieser Offenbacher Fall kam, wie leicht begreiflich, sonderlich dem bayerischen Zentrum, das ja in puncto Wahl-Kuhhandel mit der Sozialdemokratie schon damals sein Gewissen ziemlich ausgiebig belastet hatte, äußerst ungelegen, und man schrieb sich die Finger wund, um die bajuwarischen Zentrumsleute nicht kopfscheu werden zu lassen. Ich erlaubte mir, der Zentrumspresse bei dieser Schwerstarbeit nach Möglichkeit Steine in den Weg zu werfen, u. a. indem ich um die Beantwortung der Frage  bat, ob der Satz des Dieburger Blattes „Es kann und darf kein christlicher Mann etc.“ richtig sei oder nicht und zwar um eine glatte Beantwortung ohne „wenn“ und „aber“. Ich folgerte nämlich:

„Ist der Satz richtig, dann haben danach die Münchner Zentrumsleute durch ihre Wahlenthaltung „die schwerste Verantwortung vor Gott und ihren christlichen Mitbürgern auf sich geladen“ und sind „in ihrem Gewissen mitschuldig an all den Folgen“, die „die denkbar schrecklichsten“ sind. Ist der Satz aber nicht richtig, dann hat das Zentrum im Wahlkreise Offenbach seine Wähler einfach schmählich belogen. Ein Drittes gibt so nicht. Man beliebe also, sich für eins von den zweien zu entscheiden. Ein Satz ragt übrigens als Eselsohr aus dem Geschreibsel der Postzeitung so sehr hervor, dass wir es nicht unterlassen können, sie etwas daran zu zupfen. Sie redet von Leuten, die Charakter genug haben, dass sie niemals einem Sozialdemokraten ihre Stimme geben, und meint damit natürlich die Zentrumsleute. Wir waren den Tränen sehr nahe, als wir diesen pyramidalen Satz lasen. Die Leute, die den in der Speyerer Domsakristei abgeschlossenen Landtagewahlkuhhandel mitmachten, hatten also keinen Charakter! Uns kann’s recht sein.“

Das war hart und bitter, aber verdient. Die Augsburger Postzeitung wagt sogar den Versuch, unsere Frage zu beantworten,  kam dabei freilich nicht ohne viele „wenn“ und „aber“ aus, worauf ich ihr erwiderte:

„Die Postzeitung meint also, was das genannte (Dieburger) Zentrumsblatt sage, sei zwar richtig, aber sie schränkt dieses Zugeständnis sofort durch den Zusatz „dem Kerne nach“ ein und verklausuliert sich dann noch weiter durch verschiedene „wenn“ und „aber“. Die Auslassung des Dieburger Blattes gelte nicht allgemein, sondern nur für Offenbach. Um diese Behauptung einigermaßen zu stützen, operiert die Postzeitung immer nur mit den zweiten Satz jener Auslassung und lässt den ersten einfach ganz weg. Das ist freilich bequem. Wir können daher nicht umhin, der Postzeitung die vollständige Äußerung ihrer, Dieburger Kollegin noch ein drittes Mal zur genaueren Beachtung unter die Nase zu halten. Der, erste Satz lautet:

„Es kann und darf kein christlicher Mann für einen Sozialdemokraten stimmen, wenn er nicht die schwerste Verantwortung vor Gott und seinen christlichen Mitbürgern auf sich laden will.“

Das ist ein ganz allgemeiner Satz und von dem Dieburger Blatt ohne jeden Zweifel auch so gemeint gewesen, denn sonst hätte es nicht von „einem“, sondern von „dem“ Sozialdemokraten geredet. Die Postzeitung wird sich nun, wenigstens für diesen Fall – allgemein kann sie’s nicht, denn die Tatsache, dass das Zentrum in anderen Fällen (bayerische Landtagswahlen) auch schon für einen Sozialdemokraten gestimmt hat, ist nicht zu leugnen – darauf hinausreden wollen, dass der Satz nur von der Abstimmung für einen Sozialdemokraten, nicht aber von der Wahlenthaltung spreche. Aber ihre Dieburger Kollegin ist unerbittlich. Denn in dem nächsten Satze wird sogleich mit Schärfe betont, dass Wahlenthaltung dem Eintreten für einen Sozialdemokraten vollständig gleich zu achten ist:

„Wer darum bei der Stichwahl nicht gegen die Sozialdemokraten stimmt, sondern sich der Abstimmung enthält, der hilft durch seine Wahlenthaltung der Sozialdemokratie zum Siege und ist in seinen Gewissen mitschuldig an all den Folgen, die aus solchem Siege für unser deutsches Vaterland und unsere hl. Kirche entstehen, und diese Folgen sind die denkbar schrecklichsten.“

Dass auch dieser Satz allgemein gemeint ist, geht aus seinem zweiten Teil unzweideutig hervor, denn die „schrecklichsten  Folgen für unser deutsches Vaterland und unsere hl. Kirche“ sind doch dieselben, ob der Sozialdemokrat nun in München oder in Offenbach gewählt wird.“

Die Postzeitung sucht sich bezüglich Münchens darauf hinauszureden, dass hier die Kandidatur des liberalen Kulturkämpfers“ Schön daran schuld gewesen sei, dass das Zentrum nicht für ihn habe eintreten können. Ich wies demgegenüber auf Karlsruhe hin, stellte die Frage, wie es denn dort gewesen sei, und beantwortete diese Frage selbst also:

„Dort hatte man es mit keinem Kulturkämpfer zu tun, Bassermann hat sich ja sogar für die Jesuiten erklärt, und doch schlug das Zentrum sich auf die Seite seiner roten Freunde. Was hat man denn da für eine Ausrede? Ziehen wir das Fazit aus dem Gesagten: Die Postzeitung bejaht die Richtigkeit der Ausführungen ihrer Dieburger Kollegin, die von ihr dazu gemachten Einschränkungen sind absolut hinfällig, wie wir gezeigt haben. Also haben die Zentrumsleute in München, Karlsruhe und anderen Orten „die schwerste Verantwortung vor Gott und ihren christlichen Mitbürgern auf sich geladen“ und „sich in ihrem Gewissen mitschuldig gemacht an all den Folgen, die aus dem sozialdemokratischen Siege für unser deutsches Vaterland und unsere hl. Kirche entstehen, und diese Folgen sind die schrecklichsten“.

Den Kuhhandel bei den Landtagswahlen von 1899 suchte die Postzeitung als einen „Akt der Notwehr“ zu rechtfertigen, was ich ihr mit folgenden Ausführungen verleidete:

„Interessant ist, wie die Postzeitung das begründet. Der ganze Vorgang wird nur unter dem Gesichtswinkel des Nutzens für die katholische Sache und die Stellung der bayerischen Katholiken betrachtet. Vom Staate und welchen Nutzen oder Schaden etwa dieser dabei hatte, ist nicht die Rede. Ihm gegenüber findet man sich mit der Entschuldigung ab, dass das Kompromiss ja nicht den Zweck hatte, die Sozialdemokratie künstlich zu stärken. Das glauben wir auch, dass es diesen Zweck nicht hatte, aber den Erfolg hatte es, und das ist doch schließlich das Wesentliche. Für das Zentrum freilich hat auch in diesem Falle wieder der Zweck die Mittel geheiligt. Das Zentrum behandelt die ganze Politik, wie hier zugestanden wird, nur unter dem Gesichtswinkel des Nutzens oder Schadens, der für die katholische Sache und vor allen Dingen für das Zentrum selbst dabei herauskommt. Und angesichts dessen hat man den Mut zu sagen, das Zentrum sei keine konfessionelle Partei. Wir möchten wissen, was dann wohl eine konfessionelle Partei sein soll.“

Die Folgen seiner Kompromisspolitik, die es immer nicht wahrhaben und eingestehen wollte, wurden dem Zentrum sogar von seinen roten Freunden ausdrücklich bestätigt. Der Führer der bayerischen Sozialdemokratie, Herr v. Vollmar nämlich, der früher einmal päpstlicher Offizier gewesen war, trat auf einem südbayerischen sozialdemokratischen Gautag 1905 der Behauptung entgegen, dass auf dem Lande die Aufstellung von Wahlmännern für die Genossen noch sehr schwierig sei, indem er sagte:

„Die Gefahr für die Wahlmänner wird überschätzt, gerade gegenwärtig ist die Lage für uns günstig. Wir sind auch auf plattem Lande nicht mehr die roten Teufel, sondern von unseren Gegnern selbst als vernünftige Leute geschildert worden. Die Zeit, wo man Hunde auf uns hetzte, mit Ziegelsteinen nach uns warf, ist für immer vorbei.“

Wie richtig Herr v. Vollmar die Dinge sah, bewies er auch mit einer an der bei derselben Gelegenheit gemachten Äußerung, als er von dem bevorstehen Zustandekommen eines neuen, vom Zentrum für seine und seiner Freunde Zwecks zurechtgestutzten Wahlgesetzes sprach und sagte:

„Wenn wir einheitlich zusammenwirken, werden wir als nächstes Ziel sicher erreichen, dass das Wahlgesetz zustande kommt, auf Grund dessen wir unsere Partei so emporheben können, dass wir in Zukunft im Landtag die Führung der Opposition übernehmen.“

So kam es schließlich auch. Ich selbst habe in meinem Blatte zu der Äußerung des Herrn v. Vollmar bemerkt:

„Die Sozialdemokratie träumt also schon von der Eroberung der Mehrheit der Mandate der Linken, zu der das Zentrum ihr verhelfen soll. Das Zentrum kommt demnach mit der Phrase, dass sein Zusammengehen mit der Sozialdemokratie lediglich eine taktische Frage sei, nicht über die Tatsache hinweg, dass es mit dieser Taktik der Sozialdemokratie zu einer ganz enormen Erhöhung ihrer Macht und ihres Einflusses verhelfen wird, welche Nacht ihm selbst eines Tages noch gefährlich werden kann. Das Zentrum ruft Geister, die es später wohl gerne wieder los wäre, die es aber nicht mehr los werden wird.“

Zu welcher Verwirrung der Anschauungen die über ein Jahrzehnt lang fortgesetzte Wahlbündnis-Politik des Zentrums selbst in seinen eigenen Reihen, zeigt die Auslassung eines katholischen Geistlichen, der 1905 im katholischen „Bayer. Vaterland“ u. a. schrieb:

„Das Zentrum als Volkspartei und die Sozialdemokratie ebenso haben hier ein gemeinsames, klar vorgezeichnetes Ziel. Wenn sie in dem Streben nach diesem Ziel, nach der volkswirtschaftlichen Zerreibung des volksfeindlichen Liberalismus gemeinsam arbeiten, so werden sich ganz sicher zwischen Zentrum und Sozialdemokratie eine ganze Menge von Berührungspunkten finden, die Gegensätze glätten und die beiden an und für sich durch eine Weltanschauung getrennten politischen Parteien einander näher bringen. Gerade deshalb muss jeder Volksfreund wünschen, dass der Gedanke des schwarzroten Bündnisses auch für die Zukunft nie ganz fallen gelassen wird, denn ihm liegt ein volkswirtschaftlich sehr ideeller Kern zugrunde. Und eben deshalb sollten bei allen zukünftigen Wahlen, sowohl bei den Reichstags- wie bei den Landtagswahlen und erst recht bei den Gemeindewahlen, Zentrum und Sozialdemokratie treu zusammen halten. Der Anfang ist gemacht. Ehrlich wurde das Kompromiss auf beiden Seiten gehalten und sollte in Permanenz erklärt werden, bis der letzte Liberale aus Reichstag und Landtag und aus den Kommunalvertretungen der Gemeinden verschwunden ist.“

Selbst wenn die Drahtzieher des Zentrums in ihrer übergroßen Schlauheit bei ihren Wahlgeschäften mit der Sozialdemokratie ursprünglich wirklich nur an taktische Manöver dachten, so zeigt die Entwicklung doch deutlich genug, wie gefährlich solche Taktik ist und wie leicht selbst Meistern der Taktik die Dinge über den Kopf wachsen. Man kann aber, ohne dem Zentrum großes Unrecht zu tun, lebhafte Zweifel haben, ob in seinen Absichten tatsächlich alles nur Taktik war. Ich habe die Gelegenheit des eben zitierten „Vaterland“-Artikels benützt, darüber Einiges, was mir am Platze schien, zu sagen:

„Hoffentlich lesen die maßgebenden Kreise diesen Artikel recht genau, und wenn ihnen dann die Augen noch nicht bald aufgehen, dann sind sie mit hoffnungsloser Blindheit geschlagen… Der Mann übrigens hat ganz Recht, wenn er von den vielen gemeinsamen Berührungspunkten des Zentrums und der Sozialdemokratie spricht. Solche Berührungspunkte sind tatsächlich jetzt schon vielfach vorhanden. Beide Parteien sind, die eine mehr, die andere weniger offen, Gegner der bestehenden Staatsordnung, wenn auch aus teilweise verschiedenen Gründen. Sie haben also zunächst beide ein Interesse daran, die bestehende Staatsordnung zu unterwühlen. Was an die Stelle des Bestehenden gesetzt werden soll, das ist ihnen spätere Sorge. Jede denkt natürlich, ihr Ideal verwirklichen zu können, und zweifelt nicht, dabei mit der andern schon fertig zu werden… Beide hoffen, auf diesem Wege am Schnellsten zu ihren Ziele zu gelangen, nämlich in den Besitz der politischen Macht. Eine der beiden Parteien muss sich notwendigerweise verspekulieren, vielleicht tun es aber auch alle beide.“

Das habe ich 1905 niedergeschrieben, nicht weil ich Prophet spielen wollte – daran habe ich als 32jähriger wahrhaftig nicht gedacht –, sondern weil ich schon damals das deutliche Gefühl hatte, dass, die aus dem Tun und Treiben dieser Parteien sich ergebende politische Entwicklung dahin führen würde. Für ihre Sünden hat das ganze deutsche Volk schwer büßen müssen und muss es in steigendem Maße jetzt noch mehr und noch furchtbarer, büßen als früher. Denn die beiden Parteien sind es gewesen, die, wenn auch nicht allein, so doch zu einem recht beträchtlichen Teil den Boden mit haben bereiten helfen für die Revolution von 1918/19 und die „Diktatur des Proletariats“ in ihrem Gefolge und für deren noch diktatorischeres Gegenstück, die Pest des Nazismus im Jahre 1933, die uns in den sechsjährigen zweiten Weltkrieg gestürzt und über das deutsche Volk ein in der Weltgeschichte noch nicht dagewesenes, unabsehbares Elend heraufbeschworen hat. Sie bzw. ihre politischen Rechtsnachfolger wollen das natürlich nicht wahrhaben und bemühen sich, die Schuld ausschließlich andern in die Schuhe zu schieben. Aber eine objektive Geschichtsschreibung, wenn es die in der deutschen Zukunft überhaupt noch geben wird, wird sie sicher einmal davon nicht lossprechen können.

Das Zentrum und die Erzbischöfe
Das Zentrum z. B. hatte sich gedacht, nachdem es mit Hilfe seiner roten Freunde in Bayern die unumschränkte Macht erlangt hatte und im Reichstag als Hundert-Männer-Partei ausschlaggebend geworden war, „konservative Staatspartei“ spielen zu können, dasselbe Zentrum, das eben noch Arm in Arm, das kaum angebrochene Jahrhundert herausfordernd, mit dem revolutionären Sozialismus an die Wahlurne geschritten war, nachdem es zuvor in einen wüsten Wahlkampf an demagogischer Verhetzung der Volksmassen das Menschenmögliche geleistet. Aber das konservative Gewand stand ihm gar nicht gut unserem Zentrum, es spielte seine Rolle darin mehr schlecht wie recht, und vorrübergehend legte es das unbequeme Gewand ganz ab und zog dafür wieder den liebgewonnenen alten schwarzrot gestreiften Rock an. Das war, als es 1907[18] im Reiche die Hilfe der roten Freunde wieder nötig zu haben glaubte. Die Regierung des Reichskanzlers Fürsten Bülow hatte die anmaßende Bevormundung durch das Zentrum endlich satt bekommen und den Reichstag aufgelöst, um zu versuchen, durch Neuwahlen zu einer nicht mehr auf Zentrum und Sozialdemokratie angewiesenen Regierungsmehrheit zu gelangen. Das Experiment gelang allerdings nur unzureichend. Bei den Hauptwahlen erlitt zwar die Sozialdemokratie eine Niederlage, das Zentrum aber behauptete seine Positionen. Und nun geschah, was nie hätte geschehen dürfen. Obwohl das Zentrum selbst nicht gefährdet war, half es bei den Stichwahlen dem im ersten Treffen gestürzten sozialdemokratischen Bruder wieder in den Sattel. Das war ein so starkes Stück, dass selbst die katholische Hierarchie, die das Gefährliche dieses gewagten Spieles erkannte, sich veranlasst sah, dagegen Stellung zu nehmen. Die Erzbischöfe von München und Bamberg traten  offen mit Kundgebungen hervor, in denen sie die Katholiken ermahnten, nicht Sozialdemokraten ihre Stimme zu geben. Dafür wurden die Erzbischöfe von ihren Zentrumskatholiken und deren Führern in der unerhörtesten Weise beschimpft und verhöhnt und zwar nicht nur in den wackeren „Hilfsmitteln der Seelsorge“, der Zentrumspresse, sondern sogar auch in öffentlichen Versammlungen. Das Eingreifen der Erzbischöfe hatte teilweise wenigstens Erfolg insoferne, als einige Mandate dadurch den Sozialdemokraten entgingen. Von den erwähnten öffentlichen Versammlungen ist besonders die sog. Kreuzbräu-Versammlung, die nach der sozialdemokratischen Niederlage in München stattfand, zu einer, gewissen, wenn auch traurigen Berühmtheit gelangt. In dieser Versammlung hat sich u. a. der damalige Chefredakteur des Bayerischen Kurier, Siebertz, gegen die Erzbischöfe also ausgelassen:

„Die Erbitterung über einen derartigen Verrat an unserer Parteisache möchte zum Himmel schreien. (Stürmischer Beifall) Es ist nicht leicht zu arbeiten für das, was wir aus idealen Gründen (!) hoch und heilig halten, wenn uns in der entscheidenden Stunde von unsern Freunden, von denjenigen, für die wir arbeiten, Prügel zwischen die Füße geworfen werden. (Pfui!) Die Sache wurde sehr schön eingefädelt und durchgeführt (Zuruf: von den Freimaurern).“

Als der Abschluss des neuen schwarzroten Bündnisses für die Reichstagswahlen 1907 bekannt geworden war, hatte ich in der Augsburger Abendzeitung dazu geschrieben:

„Die schönen Seelen haben sich wieder einmal gefunden, der Bund ist besiegelt, es ist keine Liebesheirat, sondern eine Vernunftehe. Die taktischen Gründe“ haben sich wie immer auch jetzt zur rechten Zeit wieder eingestellt. Die beiderseitige Presse, die rote und die schwarze, gibt von dem freudigen Ereignis offiziell Kunde, und damit ist zur Tatsache geworden, was außer einigen unverbesserlichen Optimisten eigentlich so Niemand mehr bezweifelte. Die nach ihrer Anschauung vom lieben Gott direkt und einzig und allein als unüberwindliche Stützen von Thron und Altar bestellten frommen Gottesleute ziehen zur Wahlurne Arm in Arm mit den Revolutionären und Gottesleugnern, die jeden Morgen zum Frühstück einen Monarchen roh verspeisen, zu Mittag die kapitalistische Gesellschaftsordnung ihrem weiten kommunistischen Magen einverleiben, zum Souper das im Laufe des Nachmittags zur Strecke gebrachte Staatswesen der Gegenwart sich servieren lassen und Kirche und Religion dann als Nachtisch verzehren. Der seltsame Aufzug dieser würdigen Brüder ist uns ja namentlich in Bayern nicht mehr ganz neu, aber immer wieder sehenswert und unter den heutigen Umständen von besonders grotesker Wirkung. Wie schrieb doch der Badische Beobachter, das Organ des Zentrumsführers Geistl. Rates Wacker, dem es doch gewiss an Temperament und radikaler Gesinnung nicht gebricht:

„Keine Stimme der Sozialdemokratie! Wir begreifen es, dass mancher Zentrumsmann sich rächen möchte mit einem roten Stimmzettel, wir haben auch schon ähnliche Äußerungen gehört. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die Sozialdemokratie alles verneint, was wir hochschätzen. Sie ist ebenso eine Feindin der Religion überhaupt wie der Kirche, insbesondere der katholischen Kirche. Sie ist eine Feindin der Monarchie und von Grund aus revolutionär. Das ganze Jahr bekämpft sie nichts so sehr wie das Zentrum, andererseits versagt sie meist in allen nationalen und sozialen Fragen. Wir haben daher keinen Grund, ihr irgendwelchen Vorschub zu leisten.“

Und was tun die bayerischen Zentrumsleute? Sie wählen die „Feindin der Monarchie, der Religion und insbesondere der katholischen Kirche“, sie geben Atheisten (gemeint war der Kandidat der Sozialdemokraten für Erlangen-Fürth Segits) und Altkatholiken (hier ist der sozd. Kandidat für München I, Birk, gemeint) ihre Stimme, um katholische Männer zu verdrängen die das Verbrechen begangen haben, eine eigene und unabhängige politische Überzeugung besitzen zu wollen. Oder gilt von der bayerischen Sozialdemokratie nicht das Gleiche wie von der badischen? Wir glauben doch, denn sonst hätte nicht das Organ des Verbandes süddeutscher katholischer Arbeitervereine „Der Arbeiter“, dessen Redakteur der für das bayer. Zentrum im Landtagswahlkreise, Krumbach kandidierende Geistliche Walterbach ist, vor kurzem noch schreiben können:

„Einem Sozialdemokraten kann ein katholischer Arbeiter seine Stimme niemals geben. Da und dort scheint leider das Ehrgefühl der katholischen Arbeiter noch zu mangeln, sie horchen noch auf den Fuchs, der in Schafskleidern zu ihnen so schön und zahm predigt. Christliche Arbeiter! Denkt daran, wie diese „Genossen“ in den letzten sechs Jahren Eure religiöse und politische Überzeugung missachtet, bespöttelt und in den Kot gezogen haben. Katholische Arbeiter! Denkt daran, wie es Genossen sind, die durch ganz Deutschland schon Hunderte von christlichen Arbeitern ums Brot, und die Arbeit gebracht haben, denkt daran, wie dieselben Genossen im Namen der Freiheit jede andere Meinung unterdrücken und verachten, wie sie der christlichen Arbeiterschaft das Koalitionsrecht rauben wollen. Ein Feigling und politischer Tropf ist jener katholische Arbeiter, der nach all dem noch einem „Genossen“ seine Stimme gibt. Kein Sozialist soll die Stimme eines politisch reifen katholischen Arbeiters erhalten.“

Und jetzt werden dieselben Arbeiter kommandiert, sich selbst als Feiglinge und politische Tröpfe und für politisch unreif zu erklären. Darum soll man eben niemals „niemals“ sagen.

Sich über den schamlosen Zynismus der Zentrumspolitik viel aufzuregen hat keinen Zweck. Damit ändert man nichts, wohl aber damit, dass man die Vorgänge und Tatsachen gut im Gedächtnis hält, sich zu gegebener Zeit daran erinnert und jederzeit, wenn es notwendig ist, die Konsequenzen daraus zieht.“

Die Kreuzbräu-Versammlung spukte, wie sich denken lässt, noch lange in den Spalten der politischen Presse herum. Auch ich habe mich des Öfteren mit ihr befasst und Anfang Februar 1907 beispielsweise u. a. darüber geschrieben:

„Wer Zeuge war der Wut und des Ingrimms, die in der Zentrumsversammlung im Kreuzbräu über die Niederlage der Verbündeten zum Ausdruck kamen, der zweifelt nicht an ihrer Echtheit. Den patentierten Gottesstreitern ging das Unglück des gottesleugnenden Freundes tatsächlich näher als manchmal schon eigenes Leid. Wenn dem nicht so wäre, dann würde ja die Sprache, die im Kreuzbräu geführt wurde, gar nicht zu verstehen sein. Wir möchten einmal den Lärm der Zentrumspresse erleben, wenn sich eine liberale Versammlung oder die liberale Presse erlaubten, einen auch nur annähernd ähnlichen Ton anzuschlagen, wie ihn die Erzbischöfe und jene Katholiken, die sich öffentlich gegen die Stichwahlparole des Zentrums wandten, hier zu hören bekamen. Und dabei redet man noch davon, dass man den Kundgebungen der Erzbischöfe den schuldigen Respekt nicht versagen wolle, nur brauche man nicht nach ihnen zu handeln. Denn, so wird des Langen und Breiten ausgeführt, sie stellten keine Direktiven, keine oberhirtliche, alle Gläubigen verpflichtende Entscheidung dar, sondern nur eine Meinungsäußerung. Als ob das Erstere irgendein vernünftiger Mensch behaupten wollte. Aber schließlich ist doch auch die bloße Meinungsäußerung der beiden höchsten kirchlichen Würdenträger Bayerns in einer solchen Sache nicht belanglos und auch nicht ohne Wirkung, wie der Ausgang der Wahl in München I gezeigt hat. Die Zentrumspresse meint, nachdem die geistlichen Oberhirten nun einmal in einer politischen Frage öffentlich Stellung genommen, würden sie künftig wohl auch eines Tages sich in die Lage versetzt sehen, für das Zentrum Partei zu ergreifen, und dann könnten die liberalen Katholiken nach dem jetzigen Präzedenzfall auch nichts dagegen sagen. Abgesehen davon, dass dieser Fall so leicht nicht eintreten wird, könnten die liberalen Katholiken dann genau dasselbe sagen, was die Zentrumskatholiken jetzt sagen: dass private Meinungsäußerungen des Episkopates niemanden im Gewissen verpflichten. Wenn katholische Laien in politischen Dingen nicht den Anschauungen ihrer Bischöfe gemäß handeln wollen, so ist das ihre Sache, die sie mit sich selbst auszumachen haben. Wenn aber Geistliche den Absichten und Wünschen ihrer Bischöfe direkt zuwiderhandeln und sogar mit ganz zweifelhaften Mitteln dagegen agitieren, so ist das eine Erscheinung, die den katholischen geistlichen Behörden sehr lebhaft zu denken geben dürfte.“

Selbstverständlich bemühte sich die Zentrumspresse auch jetzt wieder krampfhaft, Entschuldigungsgründe für den neuesten Wahlkuhhandel ihrer Partei zu finden und plausibel zu machen. Das veranlasste mich, einen Artikel mit der Überschrift „War das schwarzrote Bündnis begründet?“ zu schreiben, in dem ich u. a. sagte:

„Die Zentrumspresse treibt jetzt einen unglaublichen Aufwand an Papier und Druckerschwärze, um das neueste Bündnis ihrer Partei mit der Sozialdemokratie zu rechtfertigen oder doch zu entschuldigen. Dieses krampfhafte Bemühen ist ein deutlicher Beweis für das schlechte Gewissen derer, die für die zynische Politik der Zentrumspartei die Verantwortung tragen, es ist aber zugleich auch ein unverkennbares Zeichen der Furcht und der Besorgnis, dass die Vorkommnisse der letzten Zeit im Verein mit den bekannten Kundgebungen von Bischöfen und hervorragenden katholischen Männern, die zum Teil sogar dem Zentrum selbst angehören, endlich der Masse des katholischen Volkes die Augen öffnen, die Gefährlichkeit des Weges, den skrupellose Führer sie weisen, und die Verwerflichkeit der Mittel sie erkennen lassen möchten, deren jene im politischen Kampfe sich bedienen. Und diese Befürchtung ist nicht unbegründet. Denn weite katholische Kreise hat das fortgesetzte Paktieren des Zentrums mit der Sozialdemokratie tatsächlich stutzig gemacht, und wenn das bei diesen Wahlen praktisch noch nicht so sehr zum Ausdruck gelangte, so ist daran wohl nur der Umstand schuld, dass die Sache zu überraschend gekommen war und namentlich die Kundgebungen der Bischöfe zu spät erfolgten. Wären sie acht Tage früher bekannt geworden, so würden sie wahrscheinlich noch eine ganz andere Wirkung erzielt haben. Wenn den Leuten jahraus jahrein von der Todfeindschaft der Sozialdemokratie gegen die katholische Kirche, von angeblich „unüberbrückbaren Gegensätzen“, von einer ganzen Weltanschauung, welche die beiden trennen soll, vorgepredigt wird, und wenn dann bei jeder Wahl die unüberbrückbaren Gegensätze mit Leichtigkeit überbrückt erscheinen, der vorgebliche Todfeind als willkommener Bundesgenosse aufmarschiert und das Trennende einer ganzen Weltanschauung kein Hindernis bildet, den Katholiken die Abgabe sozialdemokratischer Stimmzettel zu empfehlen, so muss schließlich auch einmal der einfachste von des Gedankens Blässe nicht angekränkelte katholische Wähler sich die Frage vorlegen, ob denn der Weg, den er sich blindlings führen lässt auch der richtige ist. Beim ersten und zweiten Mal mag ja mancher die „taktischen Gründe“ und die Entschuldigung „es ist ja nur für diesen einen speziellen Fall“ noch plausibel finden, wenn aber die „taktischen Gründe“ zum dritten und vierten Male und öfter hinter einander wieder kehren und der „eine spezielle Fall“ mit stereotyper Regelmäßigkeit sich wiederholt, dann müssen es schon ganz naive Gemüter sein, die den Schwindel noch für bare Münze nehmen, oder aber ganz geriebene, skrupellose Politiker, die des Schwindels bei ihren zweifelhaften Geschäften nicht entraten können.

Hätte das Zentrum eine leidlich anständige Politik verfolgt und, wenn es schon nicht bei den Stichwahlen zu den andern bürgerlichen Parteien sich schlagen wollte, doch wenigstens dort, wo es selbst nicht in Betracht kam, sich der Wahl enthalten, so hätte es heute allerdings vielleicht ein paar Mandate weniger, seine Stellung im Parlament wäre aber deswegen um kein Haar schlechter, und es hätte einen moralischen Erfolg errungen, den – dessen sind wir sicher – heute gar viele Zentrumsleute, wenn sie noch einmal die Wahl hätten, vorziehen würden.“

Besonders liebevoll nahm sich die Zentrumspresse sowohl wie die des roten Bundesgenossen des Bamberger Erzbischofs an, den man als den Anstifter der ihnen so schmerzlichen Kundgebungen gegen ihre intime Wahlfreundschaft betrach-tete. Ich hin wiederum nahm mich ebenso liebevoll dieser lieblichen Presseerzeugnisse an. Zuerst der Zentrumspresse:

„Man erinnert sich vielleicht noch der scheinheiligen Entrüstung, mit der seinerzeit die Zentrumspresse über uns herfiel, als wir genötigt waren, an dem Vorgehen des Bischofs von Regensburg in Sachen der Kirchengemeindeordnung eine übrigens durchaus sachliche und in maßvollen Grenzen sich bewegende Kritik zu üben. Wie zeterte man damals über die angeblich unerhörte Behandlung der hochwürdigsten Herren Bischöfe durch die liberale Presse! Und heute? Gegenüber dem Orkan der Wut und Entrüstung, der jetzt in der Zentrumspresse und in Zentrumsversammlungen gegen die Erzbischöfe und den Abt Danner von St. Bonifaz tobt, war unsere Kritik an Bischof Senestrey das reine Zephiersäuseln. Man wirft den Herren ganz offen Verrat an der Idealen Sache vor, man gibt unverhohlen seiner Schadenfreude Ausdruck, dass die Zentrumskatholiken in Erlangen-Fürth dem Wunsche ihres Erzbischofs zuwidergehandelt haben, man sucht den Abt in Gegensatz zu seinem ganzen Kloster zu bringen, indem man behauptet, der Konvent von St. Bonifaz missbillige die Haltung seines Abtes aufs Schärfste, ja man scheut sich nicht, das katholische Volk in den aufreizendsten Artikeln gegen seine geistlichen Oberen aufzuhetzen. Alles bloß deshalb, weil die Herren zu den zweifelhaften und gefährlichen politischen Manövern der Drahtzieher, die einerseits mit der „gefährdeten Religion“ hausieren gehen und auf der andern Seite mit den größten Feinden der Religion immer wieder Wahlbündnisse schließen nicht stillschweigen wollten. Das tut dieselbe Zentrumspresse, die sonst zu einer an Byzantinismus grenzenden Devotion[19] vor den Bischöfen förmlich erstirbt, so lange die Herren hübsch still sind und die dunklen politischen Machenschaften der Erbpächter des wahren Christentums nicht stören. Auch da gilt eben noch mehr wie anderswo mutatis mutandis[20] das Wort „Und der Bischof absolut, wenn er uns den Willen tut“. Ein außerordentlich interessantes Geständnis macht übrigens die Donau-Zeitung. Sie bürdet die Schuld für den schlechten Wahlausfall in München dem Umstande auf, dass dort die kirchliche Organisation um Jahrzehnte hinter der Entwicklung der Großstadt zurückgeblieben sei. Das heißt also mit anderen Worten: Das Zentrum braucht die kirchliche Organisation, um politische Geschäfte zu machen, und wo die kirchliche Organisation versagt, da ist es auch mit den politischen Erfolgen des Zentrums vorbei. Und da soll das Zentrum dann keine konfessionelle Partei sein!“

Auch die sozialdemokratische Münchner Post bekam es infolge der erzbischöflichen Kundgebungen plötzlich mit schweren religiösen Sorgen und Bedenken zu tun, so dass ich nicht umhin konnte, ihr mit dem folgenden Ziel etwas darüber hinwegzuhelfen:

„Tränen der Rührung könnte man vergießen, wenn man von dem tiefen Schmerz der frommen Genossen über den Schaden liest, den des Erzbischofs von Bamberg Kundgebung in ihren so religiös veranlagten Gemütern angerichtet. Wenn Erzbischöfe so gottlos werden, dass sie die Sozialdemokratie nicht mehr als eine Fügung der Vorsehung betrachten wollen, dann ist es kein Wunder, wenn die Genossen in ihren heiligsten Gefühlen verletzt sich empören und wenn ihr Organ in schmerzlicher Entrüstung an den Bamberger Oberhirten die Frage richtet: Weiß der Erzbischof, was sein Erlass angerichtet hat? Der Erzbischof habe das Vertrauen untergraben und verloren, und der Gewährsmann der Münchner Post – man denke nur! – fürchtet, dass es ihm nie mehr gelinge, das unbedingte Vertrauen zurückzugewinnen, wie er es besessen habe. Ja, es wird dem Herrn Erzbischof sogar so halb und halb gedroht mit Volkskundgebungen. Auf seinen Firmungsreisen, so wird ihm prophezeit, könne er noch Wunder der Liebe und Anhänglichkeit erleben. Tief ergreifend ist auch die Betrübnis des Gewährsmannes der Münchner Post darüber, dass der Herr Erzbischof von Bamberg keinen von seinen Dignitären und Domkapitularen um Rat gefragt, wo doch so gediegene Ehrenmänner ihm zu Gebote gestanden wären. Von dem überschwänglichen Lob, das ihnen im Gegensatz zu ihrem Bischof von einer sozialdemokratischen Zeitung gespendet wird, werden die „gediegenen Ehrenmänner“ kaum sonderlich entzückt sein. Der Herr Erzbischof habe so sehr auf eigene Faust gehandelt, dass nicht einmal sein Sekretär etwas von der Sache  gewusst habe. Der Herr Sekretär muss übrigens mit den Intentionen und Anschauungen seines erzbischöflichen Herrn sehr schlecht vertraut sein, wenn es richtig ist, was der Gewährsmann der Münchner Post von ihm erzählt. Danach hätte er nämlich, als man bei ihm von Fürth-Erlangen aus angefragt, ob die Stichwahlkundgebung des Herrn Erzbischofs richtig sei, sofort telefonisch zur Antwort gegeben, „es sei Schwindel, eine Gemeinheit usw.“. Nicht minder pikant ist, was in Bezug auf den Herrn Domdekan und Abgeordneten Dr. Schädler erzählt wird. „Als Domdekan Schädler erschien und beim Erzbischof anfragte, ob die Zeitungsnachricht richtig wäre über den Erlass und der Erzbischof es bejahte, brach Dr. Schädler sofort die Audienz in höflicher, aber entschiedener Weise ab. Später, wurde Dr. Schädler beim Ansuchen um eine weitere Audienz angewiesen, er möge schriftlich den Gegenstand einreichen.“ Also der Herr Domdekan geruhten den Herrn Erzbischof in Ungnade zu entlassen. Auch nicht übel!“

Immerhin hat der Herr Erzbischof seine Autorität und Würde der Anmaßung des ihm untergebenen Geistlichen gegenüber dadurch zu wahren verstanden, dass er diesem, der allerdings wohl zu mehr als drei Viertel Politiker und zu weniger als einem Viertel Geistlicher und Domkapitelmitglied war, eine weitere persönliche Audienz versagte. Im Übrigen liegt es auf der Hand und ergibt sich aus den vorliegenden Umständen, dass die Informationen der sozialdemokratischen Münchner Post nur aus der nächsten geistlichen Umgebung des Herrn Erzbischofs gestammt haben konnten und dass sie entweder auf den Sekretär des Erzbischofs oder auf den hochmögenden Herrn Dr. Schädler selbst zurückzuführen waren. Ein angenehmes Gefühl für den Oberhirten einer Diözese, von solchen Geistlichen umgeben zu sein! Aber das Vorkommnis ist ein klarer Beweis dafür, dass das Heft in der Kirche zu jener Zeit die politisierende Geistlichkeit in den Händen hatte und dass auch Bischöfe dagegen machtlos waren.

Von religiösen Bedenken und Sorgen wurde auch der bayerische Kurier, das führende bayerische Zentrumsblatt, geplagt, und wenn sie ihm als zentrumskatholischer Zeitung auch etwas besser anstanden als den sozialdemokratischen Blatt, so war doch die Art, wie der Kurier seine Bedenken vorbrachte, so dreist, dass ich mich einer entsprechenden Bemerkung dazu nicht enthalten konnte. Der Kurier suchte nämlich dem Bamberger Erzbischof mit der läppischen Prophezeiung Bange zu machen, dass die erzbischöflichen Erklärungen zu den Stichwahlen religiöse Gleichgültigkeit und Abkehr von der Kirche zur Folge haben würden.

„Es Wird gut sein“, sagte ich, „wenn der Kurier den Beweis für diese Behauptung nicht zu führen braucht. Denn er müsste uns dann wohl lange darauf warten lassen. Mit viel mehr Recht und viel größerer Aussicht auf die Möglichkeit der Beweisführung könnte man die Behauptung aufstellen, dass das ewige Paktieren des Zentrums mit der Sozialdemokratie religiöse Gleichgültigkeit oder Abkehr von der Kirche zur Folge haben müsse. Jedenfalls werden die Herren Erzbischöfe die Verantwortung für die aus ihrem Vorgehen in religiöser Hinsicht etwa sich ergebenden Folgen viel leichter tragen als das Zentrum die Verantwortung für seine zynische und gewissenlose Politik. Mit einer geradezu unverschämten Anmaßung werden die Kirchenfürsten belehrt über das Verkehrte, Unrichtige und Schädliche ihres Handelns und über das, was Pflicht und Gewissen ihnen nach der Anschauung der Herren Siebertz und Genossen, die es ja allein und am besten wissen, gebietet. Zur Entscheidung darüber, was der Religion und dem Vaterlande am meisten frommt, ist der Bayer. Kurier nebst seinen Hinterleuten allein die vom lieben Herrgott direkt bestellte höchste Instanz. Die Bischöfe haben zu schweigen oder, wenn sie schon reden wollen, vorher beim Bayer. Kurier um die nötigen Direktiven gehorsamst einzukommen. Es ist übrigens köstlich, dass die Augsburger Postzeitung unbewusst dem Bayer. Kurier einen ganz gehörigen Klaps auf seinen großen Mund gibt. Der Kurier deutet durch die mit einem Fragezeichen versehene Spitzmarke seines Artikels an, dass er bezweifelt, ob die Erzbischöfe nach Pflicht und Gewissen gehandelt haben. Die Augsburger Postzeitung aber, die bei Abfassung ihres Artikels freilich noch keine Kenntnis von der feinen Leistung des Münchner Bruderblattes haben konnte, schreibt:

„In keinem Stadium der Erörterung wurde etwa behauptet oder auch nur angedeutet, dass die beiden Erzbischöfe nicht von Pflicht und Gewissen sich hätten leiten lassen. Ein solcher Gedanke wäre eine Vermessenheit, deren wir uns nie schuldig machen werden.“

Inzwischen hatte, aber, wie man gesehen, der unselige Kurier sich bereits, dieser Vermessenheit schuldig gemacht.“

Auf dem nächsten bayerischen Zentrumsparteitag musste natürlich auch der Konflikt mit den Erzbischöfen wieder in Ordnung gebracht werden. Die Zentrumspresse war darüber ungemein froh, denn es war ihr schließlich nie recht behaglich bei dieser kitzligen Sache gewesen. Nun brüstete sie sich damit, dass die Sache glatt erledigt worden sei, und ich schrieb zu dieser Erledigung in der Augsburger Abendzeitung:

„Das Wertvolle an den verflossenen Vorgängen ist der Umstand, dass die Bischöfe einmal deutlich zu erkennen gegeben haben, dass sie nicht Bischöfe, einer politischen Partei, Zentrumsbischöfe, sind, sondern Bischöfe der Allgemeinheit der Katholiken, auch derer, die politisch nicht zum Zentrum sich bekennen, aber doch treue Anhänger ihrer Kirche sind. Und solche gibt es eben immer noch trotz Zentrumspresse und mehr als dieser lieb sind. So naiv zu glauben, dass die Bischöfe sich dauernd mit einem Großteil der Katholiken, wie ihn das Zentrum zweifellos darstellt, verfeinden würden, waren wir nie, aber es durfte uns mit Genugtuung erfüllen, zu sehen, dass die Bischöfe denjenigen Teil des katholischen Volkes, der sich selbst für den allein auserwählten hält und deshalb das Recht für sich beansprucht, alles mit unerhörtem Terrorismus unter seinen Willen zu zwingen, ein offenbares Unrecht unverblümt auch als solches vorgehalten haben. Es mutet übrigens sehr seltsam an, wenn die Zentrumspresse jetzt mit solchem Nachdruck und so verdächtigem Eifer konstatiert, die Sache sei nach Art treuer Katholiken erledigt worden, die ihre politische Freiheit nochmals nachdrücklichst betonten, aber den Oberhirten gegenüber einer Haltung und Sprache sich befleißigten, wie sie vor dem kirchlichen Hirtenamt geübt werden müsse. Es hat ziemlich lange gedauert, bis man zu dieser Haltung und Sprache sich bequemte. In der Münchner Kreuzbräu-Versammlung und in den Münchner Zentrumsorganen waren Haltung und Sprache nichts weniger als so geartet, wie sie vor dem kirchlichen Hirtenamt geübt werden müssen. Hier aber kam der wahre Charakter dieser Leute jedenfalls viel mehr zum Ausdruck als in den durch die Zentrumsdiplomatie zurechtgedrechselten Beschlüssen und Resolutionen des Parteitages. Dadurch, dass man jetzt dekretiert, die Sache ist erledigt und alles wieder gut und schön, werden jene charakteristischen Vorgänge nicht einfach ungeschehen gemacht. Wenn auch nicht das Zentrum, so werden doch andere Leute dafür Sorge tragen, dass die Erinnerung an diese unerhörten Dinge zu gelegener Zeit wieder aufgefrischt wird. Und die Erzbischöfe werden wohl auch so schnell nicht vergessen, dass Leute, die sich immer als die „treuesten Katholiken“ hinstellten, sie kurzerhand als Verräter brandmarkten dafür, dass sie taten, was sie als Oberhirten ihrer Diözese für ihre Pflicht hielten. Die Parteileitung des Zentrums hat übrigens zur Rechtfertigung ihres Verhaltens bei den Stichwahlen ein Schreiben an die Erzbischöfe gerichtet, auf welches von den beiden Kirchenfürsten auch Antworten erfolgt sind. Diese wurden „der augenblicklichen Sachlage entsprechend“, sagt die Zentrumspresse, nicht veröffentlicht. Viel Angenehmes für das Zentrum muss also kaum darin gestanden haben, denn sonst wäre es sicher urbi et orbi bekannt gegeben worden.“

Anmerkungen:
[1] „Von der Gründung bis zum 15. Juli 1876 war der jeweilige Verleger in der Regel der als einziger namentlich erwähnte verantwortliche Redakteur, zuletzt also Carl Wirth. Von ihm übernahm am 16. Juli 1876 Karl Pfisterer die Chefredaktion, ab 7. Juli 1880 dann der drei Jahre zuvor eingetretene Journalist Karl Stolz (geb. 1847), der nach Carl Wirths Tod 1892 bis zum 31. März 1914 auch die Geschäftsleitung des Verlages innehatte. Die nachher in politischen und nichtpolitischen Teil aufgeteilte Chefredaktion erhielten Cajetan Freund (1873-1962) und der seit 1911 als dessen Stellvertreter fungierende Journalist Dr. Franz Stirius. Beide wurden 1917 auf Druck der Zensurbehörden, die sich an Freunds alldeutschem Kurs störten, durch Dr. Friedrich Möhl (geb. 1875) als Hauptschriftleiter abgelöst.“ Histor. Lexikon Bayerns, online

[2] … des Katholizismus …

[3] Gemeint ist der Umgang mit Andersmeinenden (Häresie)

[4] Siehe auch  Dominikus-Ringeisen-Werk

[5] Das war der damalige Stiftspropst des Hof- und Kolegiatsstiftes von St. Cajetan (Theatiner), Exz. Ritter v. Tütk. Er war ebenfalls ein Freund unserer Zeitung, dem wir auch manche wertvolle Information verdankten.

[6] Gemeint ist der älteste Sohn des berühmten Erzgießers, der Direktor der Akademie der bildenden Künste Ferdinand v. Miller, der zum engsten Freundeskreise des Prinzregenten Luitpolt gehörte. Oskar v. Miller, der Schöpfer des Deutschen Museums war ein jüngerer Bruder Ferdinands.

[7] Es war der Österreicher Frühwirth, der spätere Kardinal.

[8] Dieser Papst war Pius X., vorher Patriarch Sarto von Venedig.

[9] Im Sinne von Wichtigtuer, Besserwisser, abgel. von „mit einem Wappel (also einer Marke) versehen“, z.B. J.u.W.Grimm, Dt. Wörterbuch Bd. 27, Leipzig 1922/1934

[10] Schlägen

[11] Von frz. Intransigeant, Kompromisslos, unnachgiebig

[12] In einem Edikt erließ Max I. Joseph 1818 aufgrund der Einwände die CF beschreibt, die Einhaltung der Toleranz- und Paritätspolitik.

[13] Etwa Ohrfeige, Klatsche

[14] Bischof der katholischen Kirche, der einem anderen Bischof zur Seite gestellt wird.

[15] Dieser Chefredakteur war der spätere bayerische Ministerpräsident Held.

[16] Schädler war Mitglied des Bamberger Domkapitels, das aber nur so nebenbei. In der Hauptsache beschäftigte er sich mit der Politik als Reichtags- und Landtagsabgeordneter. Es wird an anderen Stellen noch mehr von ihm die Rede sein. Es war unter den vielen politisierenden katholischen Geistlichen der damaligen Zeit einer der führenden und aktivsten, aber auch eine der unerfreulichsten Erscheinungen dieser Art und hat durch sein ganzes Auftreten, das darf man heute ruhig sagen, der katholischen Kirche zweifellos viel mehr geschadet als genützt.

[17] Lat., … daher die Tränen …

[18] Die Kosten des sog. „Hottentottenwahl. Aufstand der Nama (Hererokrieg) in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika machten einen Nachtragshaushalt in Höhe von 29 Mio. Mark erforderlich. Die Sozialdemokraten weigerten sich angesichts der brutalisierten deutschen Kriegsführung dem Haushalt zu zustimmen. Nach der Niederlage für den Haushalt, ließ Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow auf Weisung Kaiser Wilhelm II den Reichstag auflösen.

[19] Unterwürfigkeit

[20] Lat. „nach Änderung des zu ändernden“, Auslegungssache